Keiner weiß so genau, ob der große Aufschneider Bruce Chatwin wirklich bis ganz nach unten, bis in die Hafenstadt Punta Arenas gekommen ist, aber Kap Hoorn hat er auf seiner Reise durch Patagonien bestimmt nicht erreicht. So hätte er auch nicht auf einen einsamen chilenischen Offizier treffen können, wie er jetzt mit der russengroßen Tellermütze auf der steilen rutschigen Treppe steht und jeden Besucher mit Handschlag begrüßt. Frau und Kinder sind das ganze Jahr über dabei, aber auch mit ihm eingesperrt unterm rot-weißen Leuchtturm auf diesem Felsen, sturm- und regenumtost, ganz am Ende der Welt.
Vermutlich böte manches Gefängnis mehr Auslauf. Seine Inspektionsgänge führen den Wächter über einen botanischen Lehrpfad und einen Steg hinauf an das halbwegs reparierte Denkmal für Tausende, vielleicht Zehntausende Seeleute, die in der rauen See dort unten ertrunken sind beim Versuch, die Südspitze des Kontinents zu umschiffen. Viele haben es versucht, Sir Francis Drake soll sogar in hochgeheimer Mission durchgeschippert sein, aber es war dann Kapitän Willem Cornelisz Schouten, der das Kap vor 400 Jahren als erster lebend bewältigte. Er stammte aus der holländischen Stadt Hoorn, die seine Expedition finanzierte; daher der Name.
Die Ureinwohner Patagoniens kamen selbst dem neugierigen Charles Darwin unheimlich vor
Heute besitzt Chile den steil aus dem Meer ragenden Felsbrocken, und die Schriftstellerin Sara Vial aus Valparaíso hat letzte Worte für die Marinos Muertos gefunden, für die Seeleute, die hierher segelten und starben. Wind und Wetter haben den pathetischen Versen auf der Stahlskulptur zugesetzt, aber das Wichtigste steht noch immer da: "Soy el albatros que te espera en el final del mundo", ich bin der Albatros, der dich am Ende der Welt erwartet. Und da es sich bei dieser Kreuzfahrt um eine mustergültig organisierte Reise handelt und jetzt der Höhepunkt erreicht ist, spannt genau in diesem Augenblick hoch oben über der wildbewegten See ein echter Albatros die Flügel auf.
Beinahe hätte dieses unwirtliche Trumm zwischen Atlantik und Pazifik die übrige Welt sogar um die Evolutionslehre gebracht. "Kap Hoorn forderte allerdings seinen Tribut und jagte uns noch vor Einbruch der Dunkelheit eine steife Brise geradewegs in die Zähne", wie der junge Forscher Charles Darwin an Weihnachten 1832 notierte. "Wir hielten hinaus auf die See und erst am zweiten Tage wieder dem Land zu, als wir auf unserer Windseite dieses berüchtigte Vorgebirge zum ersten Mal richtig sahen, von Nebel verschleiert, die undeutlichen Umrisse umgeben von einem Sturm aus Wind und Wasser. Über den Himmel tobten große schwarze Wolken, und Regen und Hagel stürzten mit solcher außergewöhnlichen Heftigkeit auf uns herab, dass sich der Kapitän entschloss, in Wigwam Cove einzulaufen."
Ein wenig arbeitswilliger Theologe mit einem Faible für tote Käfer war Charles Darwin, als er im Marinestützpunkt Devonport bei Plymouth an Bord der Beagle ging, um Kapitän Robert FitzRoy als gebildeter Gentleman bessere Gesellschaft zu leisten. Er war neugierig, aber in Patagonien kam ihm alles so fremd vor, die Ureinwohner so fern, dass ihn Zweifel daran beschlichen, sie könnten "die gleiche Welt wie wir" bewohnen. Im günstigsten Fall erinnerten ihn die Yámana mit ihrer Bemalung an den Teufel in Carl Maria von Webers Oper "Freischütz". Nackt waren sie außerdem, mit einer höheren Körpertemperatur gesegnet, wie im Bordvortrag erzählt wird, nachts wärmten sie sich an Lagerfeuern. Daher der Name: Tierra del fuego, Feuerland.
Die wilden Feuerländer oder Patagonier waren größer als die Seefahrer aus Europa, die deshalb bald von Riesen raunten und von Ungeheuern, die sich dort unten ganz gewiss tummelten. Robert FitzRoy brachte einen Missionar mit; als christlicher Seefahrer wollte er die nackten Feuerländer zu guten Christenmenschen umerziehen, sie wollten aber gar nicht. Angeblich kannten sie keine Hierarchien, die Familie war um die Mutter organisiert, sie lebten auf Booten, ausgehöhlten Baumstämmen, fischten und jagten und brauchten niemanden. Doch wurde Gold entdeckt, Siedler schleppten Krankheiten ein. Heute sind sie so gut wie ausgestorben.
Der Inhalt konnte nicht geladen werden.
Seit Bruce Chatwin 1977 sein Sehnsuchtsbuch "In Patagonien" herausbrachte und sich ein Holzhaus in Feuerland vorstellte, "wo man leben konnte, wenn die übrige Welt in die Luft flog", ist die Welt am Ende der Welt nicht mehr ganz ausgestorben. Nicht mehr nur Walfänger und Handlungsreisende suchen diesen zugigen Fleck auf, es sind Bergsteiger, Einsamkeitsfanatiker, die Leser Chatwins.
Ein paar Kreuzfahrer sind es auch, die dann auf die Passage von Punta Arenas nach Ushuaia in Argentinien gehen. Das Schiff verfügt über hundert Kabinen auf fünf Stockwerken. Schlauchboote ermöglichen Exkursionen an Land. Gegen den Dieselgestank tragen die Bootsführer abenteuerliche Mundschutzmasken, mit denen sie wie Spiderman aussehen oder Edvard Munchs Schreiender. Zwischen den Schneebergen der Cordillera Darwin im Almirantazgo-Sund ist es, wenn die Motoren abgestellt sind, totenstill, wie es aus Ehrfurcht vor dem Gletscher am Ende der Bucht nur angemessen ist.
Es ist aber gar nicht still, es knallt erst, als würde ein Gewehr abgefeuert, dann steigert sich der Lärm zu einer Explosion. Es ist der Gletscher. Der Gletscher hat Druck von weiter oben, und vorne, am Wasser, schilfert immer wieder ein größerer Brocken ab, fällt ins Wasser. Im Echo zwischen den Bergen verstärkt sich das Geräusch zu dem tosenden Lärm, begleitet von einer Rauchwolke und gefolgt von einem kleineren Tsunami, der sogar das Mutterschiff leicht ins Schaukeln bringt. In der Antarktis würde der Gletscher kalben, hier sind es nur kleinere Stücke, die sich lösen.
Wahrscheinlich ist auch der Klimawandel schuld, aber so traurig das ist, so schön ist es doch: ein Bild wie von Monet, statt der Seerosen sind es kleine Eisbrocken, die weiß und kalt im blauen Wasser treiben, ein Bild für die Götter, denn wer sonst sähe es in dieser Einsamkeit am Ende der Welt.
Patagonien in Chile:Gigantische Landschaft aus Eis und Stein
Ein Monster in einer Höhle, ein eigentlich vom Aussterben bedrohter Kondor, der mit Artgenossen dem Puma folgt: In Patagonien ist kaum etwas so, wie Reisende es erwarten.
"Schöneres als das Aquamarin dieser Gletscher ist kaum vorstellbar", bemerkte auch Charles Darwin, ohne dessen zugewandtes Fremdeln es hier nicht geht. Das in Jahrtausenden zusammengestauchte Eis hat ein Blau angenommen, als wäre wirklich ein sonst verlorenes Licht aus der Frühsteinzeit eingeschlossen. Es ist eines der acht oder doch der 16 Weltwunder.
Das Wunder geht weiter, wenn das Schiff in die Gletscherallee einfährt. Im Beagle-Kanal reiht sich ein Eissturz an den anderen, gerecht verteilt unter den Staaten, aus denen die Forscher seit dem 18. Jahrhundert kamen: Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande. Vor Kap Hoorn schlagen die Wellen gern auch bis zum vierten Stock an das Schiff, wo der Barmann ungerührt einen weiteren Pisco Sour ausschenkt, doch in der Ur-Landschaft sind die Wasser beruhigt. Diese Fahrten ans Ende der Welt sind nicht billig. Man erzählt sich von einer Lady, die bei der Reiseleitung Klage darüber führte, dass die berühmten Gletscher zum Teil doch arg schmutzig seien, und ob man das aufs Eis heruntersedimentierte Geröll nicht vorher hätte wegschaffen, die Gletscher so putzen und wienern können, wie's Photoshop ihr zu Hause vorgegaukelt hatte?
Außer Wind und Wetter gibt es heutzutage eine andere Gefahr: die Invasion der Biber
Das südliche Feuerland ist Naturschutzgebiet. Kein Plastikbecher, kein Papiertaschentuch darf liegen bleiben; die Schwimmwesten, die so knallorange aus dieser Weltanfangslandschaft herausstechen, werden nach jedem Landgang wieder ausgezogen und verschwinden zusammen mit ihren Trägern und den Schlauchbooten auf dem Expeditionsboot.
Jede Exkursion ist eine kleine Reise in die Vorgeschichte. Die Baumgrenze liegt nur knapp über der Meereshöhe, im Salzwasserregen gedeiht aber Hartholz, das sich gelegentlich zu einem dichten Urwald auswächst, der sich über die Flechten und Sträucher erhebt. Gefahr droht dieser Natur gegenwärtig allein von der Natur. Oder anders: Ein Paradies braucht ein Schlange, die das Idyll zerstört. Die Schlange in Feuerland ist der Biber.
Ein zukunftsorientierter Mann hatte nämlich vor 70 Jahren die brillante Idee, von ganz oben auf dem amerikanischen Doppelkontinent, aus Kanada, 25 Biber-Paare zu importieren, um mit den Tieren in Feuerland Arbeit, Lohn und Brot anzusiedeln. An einen moderaten Pelzhandel war gedacht, aber der Biber, einmal ausgesetzt, hatte andere Pläne. Er vermehrte sich nicht bloß karnickelschnell, er starb auch nur an Altersschwäche, denn die Heger hatten versäumt, auch ein paar Bären und Wölfe mitzubringen, die natürlichen Feinde des Bibers. Der Biber legt seine Biberburgen an und fällt dafür so ausgiebig Bäume, dass der saure Regen ob dieser verheerenden Wirkung ganz blass wird. Nicht nur Chile leidet unter diesem Flurschaden, der Biber ist durch die Magellanstraße weiter nach Norden vorgedrungen, sodass die argentinische Regierung die Tierschützer mit der Ankündigung erfreut, in den kommenden Jahren 100 000 Biber mit Bärenfallen zu bejagen - oder sie einfach abzuknallen.
Bruce Chatwin war nicht der Erste, der sein Herz und seine Seele in Feuerland verloren hat, und er wird nicht der Letzte sein, der hierher kommt, wo der Albatros wartet, die Gletscher in diesem überirdischen Blau glühen und der Biber, dieser Spielverderber, bald den gesamten Baumbestand ruiniert hat, en el final del mundo.