Theaterwanderung in Österreich:"Gemma, Gemma, rein mit der Bagage!"

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Doch es ist auch so schon bedrückend genug. Auf der Alpe Rongg versucht die Schauspielerin Maria King in einer Art Performance verzweifelt, aus einem betonierten Mistgeviert herauszuklettern. Ihre Kollegin Katharina Grabher spricht dazu einen Text über Erniedrigung und was diese mit einem Menschen macht. Und wenn Juen hinterher die Gäste darauf hinweist, dass am Betongeviert die Jahreszahl 1938 eingraviert ist und die Alm als Winterquartier der Zöllner diente, bekommt das noch einmal eine andere Bedeutung.

Es gibt aber auch tragikomische Szenen, etwa als ein Wiener Ehepaar vor dem Bergführer Meinrad Juen (authentisch gespielt von seinem Großneffen Friedrich) steht und der in für sie unverständlichem Montafoner Dialekt erklärt, was sie für die Flucht alles brauchen. Oder als ein alter Jude zum anderen sagt: "Moses war ein rechtes Rindviech." "Warum?" fragt der andere. "Hätt' er uns nicht aus Ägypten geführt, hätten wir jetzt einen englischen Pass!"

Die Wandergruppe steigt höher und höher, über Steine, Wurzeln und Kuhfladen, an Stauden voller Blaubeeren und verblühten Alpenrosen vorbei. Die Gipfel von Madrisa und Ritzenspitzen kommen immer besser in den Blick, Juen zeigt sie seinen Gästen. Die Schauspieler huschen unbemerkt voraus, um plötzlich wieder hinter einer windschiefen Lärche hervorzutreten, als Nazi mit Reitpeitsche: "Gemma, Gemma, rein mit der Bagage!", kommandiert Kosek das Publikum zwischen die Mauern eines verfallenen Stalls. Es folgt ein Dialog zwischen dem Nazi und dem Schweizer Grenzbeamten, in dem sie sich um die Aufnahme der Juden streiten. "Wir können sie genauso wenig brauchen wie ihr", sagt der Schweizer. "Wir sind keine Antisemiten, aber wer keinen Pass hat und keinen Nachweis, dass ein anderes Land ihn aufnimmt, den schicken wir zurück." "Und wer zurückkehrt", sekundiert der Nazi, "der kommt ins Lager!"

Die Ähnlichkeit zu den aktuellen Flüchtlingsschicksalen ist frappierend, war aber bei der Entstehung des Stückes gar nicht beabsichtigt, erzählt Regisseur Andreas Kosek später beim Austausch mit dem Publikum auf der bewirtschafteten Alpe Rongg. "Wir wurden da von der Flüchtlingsthematik eingeholt." Vielleicht trägt das auch zum Erfolg des Stückes bei, das fast immer ausverkauft ist und sogar den Vorarlberger Preis für Innovation im Tourismus bekommen hat. Jedenfalls werde er häufig von Zuschauern auf die aktuelle Flüchtlingsdiskussion angesprochen, sagt Kosek. Und Friedrich Juen erinnert daran, dass laut Archiv bereits in den 1950er-Jahren die Grundschulklassen in dem Bergdorf viele Flüchtlingskinder aus Osteuropa hatten, die heute waschechte Montafoner seien. "Heute meint jeder, das Boot sei voll", so Juen. "Aber ist es das wirklich?", fragt er in die Runde. "Nein", meldet sich ein Mann, "wir haben doch 1956 auch 200 000 Ungarn aufgenommen - und das hat auch funktioniert."

Die Wanderung und also auch das Stück gehen über mehrere Stunden. Je länger es dauert, desto nachdenklicher wirkt das Publikum. "Das musst du dir mal vorstellen!", sagt eine Frau zur anderen, als der jüdische Anwalt auf der Bergwiese einfach nicht fassen kann, dass er, obwohl er im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet wurde, nun sein Vaterland wie ein Verbrecher verlassen muss. Die schöne Almlandschaft, das saftige Grün, das harmlose Kuhglockengeläut und die noch schneebefleckten Felsen dahinter: Man bringt das zunächst im Kopf nicht zusammen mit einer lebensbedrohlichen Situation, in der die Flüchtenden damals gesteckt haben. Sie wussten ja nicht: Lauert hinter der Kuppe voller Bergblumen ein Grenzpolizist? Wird es mein letzter Tag in Freiheit sein?

Tarantino-Kino im Kuhstall, das hatte man in dieser Intensität nicht erwartet

Eine der stärksten Szenen des Stücks spielt in einem leeren Kuhstall auf der Oberen Alpe Röbi. Die zwei jüdischen Frauen haben hier die Nacht verbracht und schauen, sich umarmend, zum Stallfenster hinaus: "Wie schön die Berge sind. Ist das ein Gletscher dort? Ach, wenn wir nur hier bleiben könnten." Die Frauen zögern, verlassen dann aber doch den Stall. Herein kommt der Nazi mit einem Montafoner Bauern. Eng angelehnt an die berühmte Szene mit Christoph Waltz und dem Glas Milch aus dem Tarantino-Film "Inglorious Basterds" befragt der Nazi den Bauern nach den zwei Frauen. Doch der bleibt schweigsam. Der Nazi tritt auf eine Frau im Publikum zu, hält ihr die Reitpeitsche unters Kinn: "Hast du Kinder?" Sie nickt. "Soll'n sie weiter eine Mutter haben?" Großes Kino im Kuhstall - das hatten so wahrscheinlich die wenigsten erwartet.

Danach lässt sich das Publikum auf den Wiesen an der Alpe Röbi zur Brotzeit nieder, die Kühe glotzen nichts ahnend, und wer möchte, darf sich die alte Sennhütte anschauen, an deren Stubentäfelung sich die Hirten verewigt haben. Die größte Inschrift dort: "Hirte Josef Fritsch im Kriegsjahr 1940." "Der hatte Glück", sagt Juen, "er musste nicht an die Front." Für ihn selbst, so Juen, seien die Begegnungen bei den Theaterwanderungen oft ein Glück. Einmal sei schon am Anfang im Hotel Madrisa ein älterer Mann auf ihn zugekommen und habe gesagt: "Ich war dabei, ich hab's erlebt." Am Ende des Stücks habe der Mann namens Jean Pierre Dreyfus dann erzählt, wie er als Kind mit seiner Mutter aus dem Elsass über die französisch-schweizerische Grenze geflohen sei - ohne Pass. Es habe sich eine ähnliche Szene wie im Theaterstück abgespielt, weil die Schweizer Grenzpolizei sie erst nach aufreibendem Hin- und Her passieren ließ. "Der hat das so bewegend erzählt, dass wir alle Tränen in den Augen hatten", sagt Juen. "Das war die Wirklichkeit und kein Theater."

Reiseinformationen

Anreise: mit der Bahn bis Bludenz, S-Bahn-Anschluss bis Schruns und weiter mit dem Bus nach Gargellen.

Unterkunft: Das Hotel Madrisa hat noch schöne Jugendstilzimmer im Holzbau von 1905, Übernachtung im Doppelzimmer mit Halbpension pro Kopf knapp 100 Euro, www.madrisahotel.com

Theaterwanderung: Die nächsten Aufführungen sind am 24., 25., 26. und 31. August sowie am 1. und 2. September. Dauer ca. sechs Stunden, 500 Höhenmeter, Preis: 27 Euro, nur noch Restplätze, Anmeldung unter www.montafon.at

Interessenten für 2019 können sich eintragen unter https://www.teatro-caprile.at/kontakt und werden dann über die genauen Termine informiert.

Theater: www.teatro-caprile.at

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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