Wachturm an der Ostsee:Stiller Zeuge

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Der ehemalige DDR-Wachturm "BT 11" im Ostseebad Kühlungsborn in Mecklenburg-Vorpommern ist heute als Museum ein Erinnerungsort. (Foto: Wilfried Wirth/ imago images / imagebroker)

Tausende haben versucht, über die Ostsee aus der DDR zu fliehen. Ein ehemaliger Wachturm in Kühlungsborn erinnert an ihre Schicksale - und manchmal erzählen sie auch selbst.

Von Steve Przybilla

An einem kalten, nebligen Oktoberabend wollte Harry Balbach sein bisheriges Leben hinter sich lassen. Seekarte, Kompass, Papiere: Viel mehr hatte der junge Mann nicht dabei, als er am 31. Oktober 1971 in ein wackeliges Faltboot stieg. Neben ihm Hansi, ein flüchtiger Bekannter, der ebenfalls genug hatte von der DDR. Während die Wellen gegen das Holzgestänge klatschten, peilten die Männer das Leuchtfeuer der dänischen Insel Lolland an, Marschrichtung 16 auf dem Kompass. Sie ruderten und ruderten und schauten nicht zurück, den Blick gen Westen gerichtet, in die Freiheit. Und dann kam doch alles anders.

49 Jahre später steht Balbach wieder am Strand von Kühlungsborn. Hier verwickelte er zwei Grenzsoldaten in ein Gespräch, um ihre Kontrollstrecke auszukundschaften. Hier schlich er mit Hansi über den Sand, um das Faltboot ins Wasser zu hieven. Hier begann das Abenteuer, das wenige Stunden später beinahe tödlich endete und schließlich zu einer Haftstrafe führte. Es wirkt fast surreal, wenn Balbach seine Erlebnisse schildert. Der Sonnenschein, der Salzwasserduft, die Kinder, die mit Eiskugeln über die gepflegte Strandpromenade rennen: Nur wenig erinnert an der Ostseeküste daran, welche Dramen sich hier abgespielt haben.

Doch dann kommt er in Sicht, der Wachturm. Von dort aus kontrollierten die DDR-Grenztruppen den Strand, ausgestattet mit Ferngläsern, Funkgeräten und AK-47-Schnellfeuergewehren. Der "See-Grenzbeobachtungsturm BT 11" ist eines der letzten erhaltenen Bauwerke dieser Art: 15 Meter hoch, oben verglast, zugänglich für die Öffentlichkeit. Wer etwas über die Ostsee als Fluchtroute erfahren möchte, kann den Turm und das benachbarte Museum besuchen. Mit etwas Glück - oder einem vorherigen Termin - trifft man dort Zeitzeugen wie Harry Balbach.

Harry Balbach hat 1971 die Flucht über die Ostsee versucht. Heute erzählt er Interessierten davon und zeigt ihnen den Wachturm. (Foto: Steve Przybilla)

Nur wenige Minuten, nachdem er losgerudert war, verschlechterte sich das Wetter. "Sturm kam auf, die Wellen wurden immer höher", sagt der heute 72-Jährige. "Der Nebel war so dicht, dass man die eigene Hand nicht mehr vor Augen sah." Schweren Herzens kehrten die Männer um. Kaum an Land angekommen, wurden sie verhaftet. "Versuchter ungesetzlicher Grenzübertritt" lautet die Anklage, die man in Balbachs Gerichts- und Stasi-Akten nachlesen kann. Das Dokument liest sich wie ein Krimi. 19 Uhr: Abendessen in der Gaststätte "Jochen Weigert". 21 Uhr: Boot aus der Gartenlaube geholt. 0.05 Uhr: Festnahme am Strand. "Kaum waren wir die Steilküste hoch, schauten wir in die Münder der Kalaschnikow", erinnert sich Balbach. Die Strafe für sein Vergehen: zweieinhalb Jahre Haft.

Damit solche Geschichten nicht in Vergessenheit geraten, kämpfen einige Kühlungsborner seit Jahren für den Erhalt ihres Grenzturms. 1990, kurz nach der Wende, stand das Bauwerk schon vor dem Abriss. "Wir haben dann einfach einen Bauzaun drumherum aufgestellt", erzählt Knut Wiek, damals Bürgermeister von Kühlungsborn. Für ihn persönlich hat der Grenzturm einen hohen Symbolwert. "Ich wohne gleich nebenan. Jeden Abend leuchteten die Scheinwerfer, man hat uns immer beobachtet", sagt der 77-Jährige. Dass der Turm heute noch steht, ist für ihn eine späte Genugtuung, er sieht ihn wie eine Trophäe. So klettert er regelmäßig die eisernen Leitern nach oben - nicht nur auf den Ausguck, sondern bis aufs Dach zum Suchscheinwerfer.

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Die Zukunft von "BT-11" war lange Zeit ungewiss. Erst musste der Abriss verhindert werden, später kamen die Kosten für die Sanierung dazu. Und das politische Tauziehen. "Nach der Wende wollten viele die Vergangenheit möglichst schnell vergessen", sagt Wiek. "Deshalb sehen viele Ostseebäder heute auch gleich aus, wie geleckt." Dabei sei es doch gerade das Besondere, das Touristen anziehe. 2003 gründete er mit einigen Mitstreitern den Verein Grenzturm e.V., um Sponsoren zu finden und das Gebäude langfristig zu pflegen. 2013 folgte ein kleines Museum, in dem Fotos und Anschauungsobjekte (beispielsweise ein konfisziertes Klappboot) gezeigt werden. "Zu unseren Unterstützern gehören neben Einheimischen auch viele Leute aus dem Westen", sagt Wiek.

Als Teil des Bildungsauftrags organisiert der Verein regelmäßig einen Tag der offenen Tür. "Republikflüchtlinge" wie Harry Balbach kommen dann vorbei, um ihre Motivation zu schildern. Bei ihm war es gar nicht die große Politik, die ihn aus dem Land trieb: "Meine Freunde und ich mochten vor allem die westliche Musik, die Beatles, die Rolling Stones, Chuck Berry." Nach einem Jahr in Haft wurde er von der BRD freigekauft und lebte bis zum Mauerfall im Westen. "Ich habe alles Mögliche gemacht", sagt Balbach - Elektrik, Innenarchitektur, Vermögensberatung. Zwar konnte er seine Familie zwischendurch besuchen, die Ostsee fehlte ihm dann aber doch. "Ich würde es sofort wieder machen", sagt er, "aber Kühlungsborn ist nun mal meine Heimat." Nach der Wende zog er sofort hierher zurück.

Das mondäne Ostseebad Kühlungsborn. (Foto: Laci Perenyi/ imago images)

Noch heute leben in Kühlungsborn ehemalige Regimetreue und Dissidenten Tür an Tür. Manchmal gibt es Veranstaltungen, bei denen beide Seiten zusammenkommen sollen, um ihre unterschiedlichen Sichtweisen darzulegen. "Das war keine so gute Idee", sagt Knut Wiek vom Grenzturm-Verein. "Wir hatten hier einen Mann, der den Sozialismus für das bessere System hielt. Der wurde von den Besuchern direkt niedergemacht." Solche Begegnungen führten dazu, dass über die Vergangenheit eher geschwiegen werde. "Wer sagt schon ehrlich, dass er überzeugt war, wenn man mit solchen Reaktionen rechnen muss?" Wiek findet das schade. "Wir wollen ja beide Perspektiven zeigen."

Einer der Männer, die in Kühlungsborn am Strand patrouillierten, heißt Peter Mohrenberg. Der 64-jährige Rentner lebt heute in Erfurt. "Ich bewundere den Mut der Republikflüchtlinge", sagt er, "aber die Grenzer waren auch oft ganz normale Leute." Er selbst sei von der DDR überzeugt gewesen, hätte im Ernstfall wahrscheinlich sogar geschossen. "Aber ich hab' keinen angeschwärzt und war auch nie in der Partei", betont er. Einen "versuchten Grenzdurchbruch" - so nennt er es noch heute - habe er nie erlebt. "Meist waren unsere Rundgänge wie Spazierengehen am Strand, nur dass wir bewaffnet waren und zwischendurch Personen kontrolliert haben."

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Auch bei Mohrenberg ist die Sache nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint. Mehrfach versuchte die Stasi ihn anzuwerben - er habe stets abgelehnt. Als seine damalige Freundin wegen "Staatsverleumdung" inhaftiert wurde, war auch seine Karriere bei der Volkspolizei vorbei. "Im Laufe der Zeit haben sich meine Einstellungen geändert", sagt Mohrenberg. Man merkt, dass er noch heute hin- und hergerissen ist. "Niemand ist gerne eingesperrt", sagt er zum Reiseverbot der DDR-Bürger. Andererseits: "Es war nicht alles schlecht. Welche Gesellschaftsordnung ist schon perfekt?"

Vor einigen Jahren war er noch einmal in Kühlungsborn, diesmal als Tourist. Er stieg auf den Grenzturm, schaute durchs Fenster und beobachtete die Ostsee. Harry Balbach, den ehemaligen Republikflüchtling, hat er nie getroffen. Vielleicht täte es beiden gut, sich über die alten Zeiten zu unterhalten, ohne Vorurteile. Balbach sagt, auch er sehe heute vieles anders. "Inzwischen weiß ich, dass viele Spitzel und Soldaten von der Stasi gezwungen wurden. Es ist eben nicht alles Schwarz oder Weiß." Auch er kennt einen ehemaligen Grenzsoldaten, der heute noch in Kühlungsborn wohnt. "Der hatte das Glück, niemanden aufgreifen zu müssen. Der hat einfach nur seinen Dienst gemacht."

5609 Fluchtversuche über die Ostsee hatten die Behörden seit 1961 registriert - per Schlauchboot, Luftmatratze, Taucheranzug oder im selbst gebauten U-Boot. 913 Personen schafften es in den Westen, etwa 180 ertranken bei dem Versuch. Dass beide Seiten heute zumindest Verständnis füreinander äußern, gibt Anlass zur Hoffnung. Projekte wie in Kühlungsborn tragen ihren Teil dazu bei.

© SZ vom 26.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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