Wikileaks: Enthüllungen im Netz:USA düpieren Verbündete weltweit

Geheime Depeschen, veröffentlicht von Wikileaks, geben ungeschminkt wieder, was US-Diplomaten von Politikern ihrer Gastländer halten - unter anderem von der Bundesregierung. Die Kanzlerin wird als "Teflon-Merkel" bezeichnet, Außenminister Westerwelle als eitel und inkompetent. Die Dokumente belegen auch, dass die USA versucht haben, die Führung der Vereinten Nationen auszuspionieren.

Nun ist klar, warum US-Außenministerin Hillary Clinton schon vorab bei zahlreichen verbündeten Regierungen angerufen hat, um sich für den Datenskandal zu entschuldigen: Die Wikileaks-Veröffentlichungen von 250.000 vertraulichen und teils geheimen Protokollen und Depeschen des US-Außenministeriums enthüllen die wenig schmeichelhaften Urteile amerikanischer Diplomaten über Spitzenpolitiker weltweit - auch über Mitglieder der Bundesregierung.

Ein Jahr schwarz-gelbe Koalition

Unangenehme Wahrheiten: Die von Wikileaks veröffentlichten geheimen Depeschen der US-Regierung zeigen, dass die amerikanischen Diplomaten Spitzenpolitiker wie Kanzlerin Angela Merkel (CDU, Mitte), Außenminister Guido Westerwelle (FDP, links) und CSU-Chef Horst Seehofer kritisch sehen.

(Foto: dapd)

Wie aus einem Artikel des Spiegel hervorgeht, der die Dokumente neben der New York Times, dem britischen Guardian, der spanischen El Pais sowie der französischen Le Monde publiziert, beurteilen die Amerikaner vor allem Westerwelle kritisch. Kurz vor der Bundestagswahl im September 2009 heißt es demnach in einer Einschätzung des US-Botschafters Philip Murphy in Berlin zu dem FDP- Chef: "Er wird, wenn er direkt herausgefordert wird, vor allem von politischen Schwergewichten, aggressiv und äußert sich abfällig über die Meinungen anderer Leute."

Seine "Ministerialen wundern sich in privaten Gesprächen mit uns immer noch, woher er seine politische Richtung bekommt". Murphy bezweifelt auch Westerwelles Interesse an Außenpolitik sowie dessen Sympathie für Amerika. "He's no Genscher" (Er ist kein Genscher), schrieb der Botschafter nach Washington.

Die amerikanischen Kollegen ziehen, kurz nach der Bundestagswahl 2009, augenscheinlich Angela Merkel dem designierten Außenminister vor. Merkels außenpolitischer Berater Christoph Heusgen gilt als Nebenaußenminister. Mit der Kanzlerin verhandele es sich angenehmer, sie habe "mehr Erfahrung in Regierungsarbeit und Außenpolitik", urteilen die USA. Westerwelle sei "aggressiv".

In den Akten findet sich auch ein Psychogramm Merkels, das der damalige Geschäftsträger der Botschaft im April 2009 schrieb. Sie sei "methodisch, rational und pragmatisch", agiere unter Druck "beharrlich, aber sie meidet das Risiko und ist selten kreativ".

Weil vieles an ihr abgleite, werde die Regierungschefin intern in den US- Berichten "Angela 'Teflon' Merkel" genannt - in Anspielung auf die nichthaftende Beschichtung von Bratpfannen.

"Unberechenbar mit begrenztem Horizont"

Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Seehofer gilt dem Bericht zufolge bei den Amerikanern als "unberechenbarer Politiker mit begrenztem Horizont". Außenpolitisch sei er weitgehend ahnungslos. Bei einem Treffen mit Murphy habe er nicht einmal gewusst, wie viele US-Soldaten in Bayern stationiert seien. Gelegentlich entschuldigten sich andere CSU-Politiker für die unpassenden Äußerungen ihres Parteivorsitzenden bei US-Vertretern. Weiteres pikantes Detail: Sein Parteikollege, Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der vielen als Seehofers schärfster parteiinterner Rivale gilt, wird in den Depeschen als "enger und bekannter Freund der USA" bezeichnet.

Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) wird als "schräge Wahl" bezeichnet, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) als Kontrahentin beim Datenschutz, die man "aggressiv angehen" müsse.

Ihre zum Teil sehr subjektiven Urteile über die deutschen Politiker haben die Amerikaner offenbar nicht nur aufgrund persönlicher Begegnungen gefällt. Auch eine deutsche Quelle hat ausführlich über Stärken und Schwächen von Merkel, Westerwelle und Co. geplaudert. Laut Spiegel befindet sich dieses Leck in den Reihen der schwarz-gelben Koalition: Ein FDP-Politiker, der unter anderem während der Koalitionsverhandlungen protokollierte, soll die internen Papiere an die Amerikaner weitergeben haben.

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Putin, der "Alpha-Rüde"

Doch auch im Hinblick auf andere ausländische Regierungen sparen die Depeschen nicht mit Kritik. So werde der afghanische Präsident Hamid Karsai als "schwache Persönlichkeit" beschrieben, der von "Paranoia" und "Verschwörungsvorstellungen" getrieben werden.

An der Führung der Türkei haben die Diplomaten der Vereinigten Staaten tiefe Zweifel. So beschrieben die Depeschen islamistische Tendenzen in der Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Viele Spitzenkräfte der Regierungspartei AKP seien Mitglieder einer Muslimbruderschaft, so die Amerikaner laut Spiegel. Erdogan habe islamistische Banker in einflussreiche Positionen gehoben. Er informiere sich fast ausschließlich über Islamisten-nahe Zeitungen. Der Regierungschef, so die US-Depeschen weiter, habe sich mit einem "eisernen Ring von unterwürfigen (aber hochnäsigen) Beratern" umgeben und inszeniere sich als "Volkstribun von Anatolien".

Beim Urteil über die Regierung Kenias spreche aus fast jeder Zeile der Botschaftsberichte Verachtung spreche, berichtet das Blatt, das Land ist den Amerikanern zufolge ein Sumpf blühender Korruption.

Aus dem US-Außenministerium seien Informationen angefordert worden, ob der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi tatsächlich Privatgeschäfte mit Russlands Premierminister Wladimir Putin getätigt habe. Putin werde dabei als "Alpha-Rüde" bezeichnet, Präsident Dmitrij Medwedjew als "blass" und "zögerlich".

In den Akten finde sich auch viel Klatsch und Berichte vom Hörensagen. Über den libyschen Revolutionsführer Muammar el Gaddafi heißt es demnach, er reise praktisch nicht mehr ohne die Begleitung einer vollbusigen ukrainischen Krankenschwester.

Die USA hatten die Notizen in dem Glauben verfasst, dass sie 25 Jahre lang unter Verschluss bleiben würden. Die Daten stammen vermutlich aus einem geheimen Nachrichtennetz der US-Regierung, das rund 2,5 Millionen US-Vertretern zur Verfügung steht. 90 Prozent der Dokumente sollen aus der Zeit seit 2005 stammen. Nur sechs Prozent seien als "geheim" eingestuft, 40 Prozent als "vertraulich".

Nach Darstellung des Guardian belegen die Dokumente auch, dass die USA versucht haben, die Führung der Vereinten Nationen auszuspionieren. Seit Juli 2009 würden auf Anforderung von Außenministerin Hilary Clinton persönliche Kreditkarteninformationen, Vielflieger-Kundennummern sowie E-Mail- und Telefonverzeichnisse von UN-Diplomaten gesammelt, heißt es im Spiegel dazu.

Anruf von Clinton

Das US-Außenministerium hatte Wikileaks-Gründer Julian Assange am Samstag aufgefordert, die Veröffentlichung der Dokumente zu stoppen und alle gespeicherten Daten zu löschen. In einem Brief an Assanges Anwältin Jennifer Robinson schrieb der oberste Rechtsberater des State Department, Harold Koh, dass die Veröffentlichung das "Leben zahlloser unschuldiger Menschen" in Gefahr bringe. Militärische Operationen würden gefährdet.

Damit reagierte Koh auf eine Anfrage der Anwältin, in der sie das State Department am Freitag bat, die Namen von Personen zu nennen, die die Veröffentlichungen "beträchtlich" in Gefahr bringen könnten. Koh erklärte, dass sich das US-Außenministerium auf keinerlei Verhandlungen mit Wikileaks einlasse und keine Namen nennen werde.

Um den mutmaßlichen Schaden zu mindern, hatte US-Außenministerin Clinton bereits am Freitag persönlich mit ihren Kollegen in zahlreichen Ländern, darunter China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Afghanistan, gesprochen.

Nach der Veröffentlichung gab Botschafter Murphy dem Spiegel ein kurzes Interview. Darin attackierte er "denjenigen, der dieses Material gestohlen hat". Deutschland und die USA hätten ein "exzellentes Verhältnis, und dann kommt jemand und macht das kaputt, indem er diese Berichte weitergibt".

Der Spiegel, der in der Vergangenheit als einziges deutsches Medium von Wikileaks mit Dokumenten versorgt worden war, wollte seine aktuelle Ausgabe eigentlich erst am Sonntagabend um 22.30 Uhr veröffentlichen. Jedoch wurden im Internet- Nachrichtendienst Twitter bereits Hinweise auf Kopien versendet. Auch an einzelnen Bahnhöfen war das Magazin mit der Titelgeschichte "Enthüllt - Wie Amerika die Welt sieht" zu kaufen.

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