Historie der US-Vizepräsidenten:Nur einen Herzschlag vom mächtigsten Amt entfernt

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Nach den Schüssen auf Kennedy wurde sein Vize Lyndon B. Johnson sein Nachfolger. Kein anderer Präsident war so populär wie er - bis zu seinem Absturz. (Foto: Cecil Stoughton/AP)

Das Amt des amerikanischen Vizepräsidenten ist ein sehr wichtiges - aber nur, wenn die Nummer eins stirbt. Über die Kunst, ein Leben als Schatten zu führen.

Von Willi Winkler

In der leider Gottes unsanft entschlafenen Serie "House of Cards" träumt der US-Präsident Frank Underwood den Traum von der Unendlichkeit. Seine Macht im Weißen Haus ist auf zwei Amtszeiten begrenzt, aber er hat vorsorglich seine Frau zur Vizepräsidentin gemacht, sie kann also seine Nachfolgerin werden, und schwärmerisch reiht er Wahljahr an Wiederwahljahr: "2020, 2024, 2028...". Eine ganze Dynastie entstünde, sein Reich, und er schließt mit der größten denkbaren politischen Blasphemie: "One Nation - Underwood" - alles meins!

Die Formel One nation under god (eine Nation unter Gott), auf die Underwood anspielt, ist Teil des Treueids, den die Schüler und Schülerinnen in den USA jeden Morgen auf ihre Fahne schwören. Underwood träumt natürlich nicht von Gott, sondern von einer Verstetigung seiner Herrschaft, der durch die Verfassung leider gewisse Grenzen gesetzt sind. Zwei Amtszeiten zu jeweils vier Jahren sind dem amerikanischen Präsidenten gewährt, auch dem nicht nur fiktiven Underwood, dann muss er abtreten. Anschließend und nur mit viel Glück ist der Stellvertreter an der Reihe.

US-Vizepräsidenten
:Die Nummer zwei

Mitten im US-Wahlkampf wird es erneut spannend: Es beginnt das Rennen der Running Mates. Und die sollte man im Auge behalten: Denn unter ihnen könnte der übernächste Präsident sein. In Bildern.

Der Vizepräsident ist, wie eine bekannte Redensart lautet, nur einen Herzschlag vom mächtigsten Amt der Welt entfernt, sonst aber zu allergrößter Unauffälligkeit verdammt. Als im März 1981 Ronald Reagan bei einem Attentat schwer verletzt wurde und deshalb zunächst in Lebensgefahr schwebte, während sich sein Vize George Bush weit weg in Texas befand, sah sich Außenminister Alexander Haig vorübergehend als Herr der Lage und provisorischer Nachfolger: "I am in control here", verkündete er vor der Presse, was seine Herkunft aus dem Militär verriet, aber nicht der Verfassung entsprach.

Der 25. Verfassungszusatz regelt seit 1967 die Nachfolge im Ernstfall. Der Vize folgt im Todesfall oder bei Amtsunfähigkeit; er vertritt den Präsidenten auch, wenn er krankheitsbedingt die Amtsgeschäfte ruhen lassen muss. Da der Präsident zusammen mit seinem Kompagnon gewählt worden ist, muss ein neuer Vize von beiden Kammern des Kongresses bestätigt werden. Fällt nicht nur der Präsident, sondern auch der Vizepräsident aus, folgt ihm der Sprecher des Repräsentantenhauses. Der Vize ist auch Präsident des Senats, was aber ein weiteres bedeutungsloses Amt ist; nur wenn bei der Abstimmung Stimmengleichheit herrscht, gibt seine Stimme den Ausschlag.

Schon John Adams, der erste Mann an dieser zweiten Stelle, wusste schrecklich darüber zu jammern, dass es sich um das bedeutungsloseste Amt handele, das je erfunden wurde. "Ich kann weder Gutes noch Böses tun", schrieb er Ende 1793 voller Verzweiflung an seine Frau. Solange sich sein Chef guter Gesundheit erfreut, sitzt der Vizepräsident fast untätig herum. Im Wesentlichen muss er sich darauf beschränken, möglichst unauffällig sein Leben als Schatten zu führen und auf den Tag zu warten, der wahrscheinlich nie kommt, der Tag, an dem der Präsident stirbt. Dann muss es aber sehr schnell gehen, denn das Land braucht seinen Commander in Chief.

Zwei Stunden nach den Schüssen auf Kennedy war Johnson bereits der neue Präsident

Am 22. November 1963 um 12.30 Uhr texanischer Zeit wurde in Dallas ein Attentat auf den 35. Präsidenten der USA verübt. John F. Kennedy wurde dabei schwer verletzt. Im Krankenhaus stellte man um 13 Uhr amtsärztlich den Tod fest. Vizepräsident Lyndon B. Johnson, der im Autokorso des Präsidenten mitgefahren war, blieb auch beim Sterben in der Nähe Kennedys. Der Secret Service schaffte dessen Leichnam zum Flughafen und brachte ihn an Bord der Air Force One. Um ihn keiner Gefahr auszusetzen, wurde Johnson ebenfalls unter größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen zum Flughafen befördert.

Um 14.38 Uhr, zwei Stunden nach den Schüssen von Dealey Plaza, leistete Johnson bereits seinen Amtseid und regierte fortan als 36. Präsident. Die feierliche Zeremonie, die üblicherweise im Januar auf den Stufen des Capitols in Washington stattfindet, musste improvisiert werden: Statt einer Bibel hatte sich immerhin ein Messbuch gefunden, auf das sich schwören ließ, und Johnson stand, umringt von Reportern und Assistenten, zwischen zwei Frauen, seiner eigenen und der Witwe seines Vorgängers, Jacqueline Kennedy, deren Chanel-Kostüm noch die Blutspritzer ihres Mannes zeigte. Dann erst hob das Flugzeug ab und brachte den neuen Präsidenten nach Washington. Sein Vorgänger reiste ein paar Sitzreihen weiter hinten im Sarg mit.

Dick Cheney war als zweiter Mann neben Bush Junior einflussreich. (Foto: action press)

Dieses Attentat hatte alle Anzeichen eines heimtückischen Königsmords. Die Todesumstände, auch die Eile, mit der das wichtigste Amt der Welt an einen anderen überging, ein einzelner Attentäter, dem es gelungen sein sollte, den Präsidenten mit drei Kugeln aus dem Amt zu schießen - das war einfach zu viel. Unweigerlich wurde auch Kennedys Nachfolger in die Verschwörungstheorien einbezogen: ein bulliger, doch offensichtlich machthungriger texanischer Provinzfürst, der sich auf den Thron des charismatischen Herrschers gedrängt hatte.

Kennedy sah besser aus, er machte sich um Berlin verdient, aber Johnson drückte die Sozialreform durch, mit der sein Vorgänger nur halbherzig begonnen hatte, und er garantierte der schwarzen Bevölkerung ihre Rechte, setzte allerdings auch den Vietnamkrieg fort, in den Kennedy so unverantwortlich hineingestolpert war. Seit Franklin D. Roosevelt war kein Präsident innenpolitisch so erfolgreich und ähnlich populär wie Johnson. Als er sich 1964 zum ersten Mal zur Wahl zum Präsidenten stellte, errang er mehr als sechzig Prozent der Stimmen; sein Ergebnis hat bis heute keiner mehr erreicht: Reagan nicht, Clinton nicht und Obama auch nicht. Der 25. Zusatz hätte ihm noch eine weitere vollständige Amtszeit von vier Jahren gestattet, doch gab Johnson den Versuch schnell auf, weil er wegen Vietnam einer der unbeliebtesten Präsidenten der Geschichte geworden war, ein bis dahin beispielloser Absturz.

Eleanor Roosevelt hatte kein offizielles Amt, aber ihren Mann brachte erst sie ganz groß raus. (Foto: mauritius images)

Zumindest darin übertraf ihn sein Nachfolger noch einmal. Richard Nixon war ein weiterer ehemaliger Vizepräsident, der es ins höchste Amt geschafft hatte, wenn auch nicht ohne Mühe. Er hatte dem Weltkriegsgeneral Eisenhower acht Jahre als rechter Scharfmacher gedient, aber 1960, als er selber Präsident werden wollte, gegen Kennedy verloren. 1968, zwei Präsidenten später, siegte er gegen den aktuellen Vize Hubert Humphrey. Nixon betrieb eine sehr erfolgreiche Entspannungspolitik zwischen China und der Sowjetunion, verstrickte sich jedoch so tief in die Watergate-Affäre, dass ihm das Impeachment drohte, das Amtsenthebungsverfahren, der demokratisch begründete und deshalb auch langwierige Königsmord.

Die USA sind nämlich, auch wenn das alle Amerikaner sofort weit von sich weisen würden, die letzte klassische Monarchie. Der US-Präsident ist ein auch durch die Verfassung nicht ohne Weiteres zu bändigender Herrscher. Das Amt ist ein Relikt aus dem 18. Jahrhundert, als sich die neuenglischen Kolonien vom Mutterland lossagten und nicht mehr die Untertanen des Königs in London sein wollten. "Mad King George" wurde abgelöst durch einen anderen George, den Revolutionsgeneral Washington, der 1789 als Erster das höchste Amt einnahm, das die Aufgaben des Regierungschefs und des Staatsoberhaupts in sich vereinigt.

Truman sollte plötzlich mit Churchill und Stalin die Welt neu ordnen

Washington zog sich nach acht Jahren klaglos auf seine Güter zurück. Mit Ausnahme von Franklin D. Roosevelt, der vier Mal gewählt wurde und tatsächlich zwölf Jahre lang herrschen durfte, verblieb niemand länger im Amt, aber er war in jeder Hinsicht eine Ausnahme, ein Idol bis heute und seine ganz eigene Dynastie. Als er am 12. April 1945 starb, stand er vor dem größten Sieg der amerikanischen Geschichte; Europa war befreit, Hitler würde zweieinhalb Wochen später Selbstmord begehen. Als klassischer Alleinherrscher hatte Roosevelt seinen Vize Harry Truman nie in seine Nähe gelassen. Truman war zwar als Senator bereits zehn Jahre in Washington gewesen, aber er galt als Onkel aus dem hinteren Missouri. Tatsächlich wusste er nichts über den Kriegsverlauf, nichts über die Pläne für die Nachkriegszeit, er hatte nie von den Experimenten gehört, die in Los Alamos stattfanden, und bekam es plötzlich mit Churchill und Stalin zu tun, mit denen er die Welt neu ordnen sollte. Bald bekam er Gelegenheit, die neue Macht auszuspielen, als er die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwerfen ließ.

Nach dem strahlenden Helden Roosevelt, den niemand im Rollstuhl sehen sollte, regierte ein Provinzler, aber Truman gelang die Überleitung zum Frieden, während der Kalte Krieg begann. Es war auch ein Übergang zur Normalität, angeführt nicht von einem Aristokraten von der Ostküste, sondern von einem Mann der im Zweifel drastischen Worte, der lieber Poker spielte, statt seine Untertanen mit Radioansprachen bei guter Laune zu halten. Das amerikanische Wirtschaftswunder für eine breite Mittelschicht war auch ihm zu verdanken. Einen Vize hatte der aufgestiegene Vize in seiner ersten Amtszeit nicht, und niemand vermisste ihn.

Vier Präsidenten wurden in der zweihundertfünfzigjährigen Geschichte der USA ermordet, mehrere starben vorzeitig, aber Nixon war der einzige, der zurücktrat und damit seinem Vize Platz machte. Gerald Ford war bereits sein zweiter Stellvertreter. Spiro Agnew hatte schon vor Nixon gehen müssen, weil er seinen Aufstieg schlicht der Korruption verdankte und sich auch noch als Vizepräsident großzügig hatte bestechen lassen. (Für die nachfolgenden Gerichtskosten nahm er einen Kredit beim mafiaaffinen Frank Sinatra auf und versuchte dann, die Geldstrafe, zu der er verurteilt wurde, von der Steuer abzusetzen.) Danach kam für zehn Monate Ford.

Gerald Ford war nicht nur Minderheitsführer im Repräsentantenhaus, in dem er seit 1949 saß, er war Teil der Warren-Kommission gewesen, die die Hintergründe der Ermordung Kennedys aufklären sollte, und wurde so seinerseits Teil einer unendlichen Verschwörungsfolklore. Dennoch war er 1974 der richtige Mann an der richtigen Stelle. Nach monatelangem Ringen hatte sich ein zunehmend paranoider Nixon dem öffentlichen Druck gebeugt und war zurückgetreten. Das Land atmete auf, das Volk hatte über den Monarchen gesiegt und kehrte mit dem so wenig auffälligen Ford zu einer gewissen Normalität zurück.

Der Neue wurde Präsident für zweieinhalb Jahre, eine der kürzesten Amtszeiten. Mit einer einzigen Tat ist Ford in die Geschichte eingegangen. Nixon hatte seinen Rücktritt nämlich an die Bedingung geknüpft, dass ihm sein Nachfolger einen Generalpardon gewähre. Fords erste Amtshandlung bestand also darin, Nixon von allen denkbaren strafrechtlichen Konsequenzen, die sich aus der Regierungszeit ergeben hätten, freizusprechen. So konnte Ford, anders als John Adams, endlich etwas Böses tun, aber dazu musste er erst zum Präsidenten aufsteigen. Nach dem Watergate-Skandal, der die Nation zutiefst verstört und dem Präsidentenamt schwersten Schaden zugefügt hatte, stellte Ford den Rechtsfrieden wieder her, zumindest für seinen Chef. Das Volk konnte dieses Staatsverbrechen nicht verzeihen; als er sich selber zur Wahl stellte, scheiterte Ford nicht zuletzt wegen dieses monarchisch verfügten Freispruchs.

Vom Zweiten im Schatten Reagans zum Gründer einer Dynastie

John Adams wurde 1797 der Nachfolger George Washingtons, schaffte jedoch selber auch keine zweite Amtszeit und grollte dem System, das er mitgeschaffen hatte. Er erlebte aber noch, wie sein Sohn 1824 zum sechsten Präsidenten gewählt wurde. Der Traum von einer Dynastie, den auch die Kennedys träumten, erfüllte sich erst für die Familie Bush.

Wiederum acht Jahre hatte George Bush den ungleich beliebteren Ronald Reagan begleitet. Er war dann einer der wenigen Vizepräsidenten, die anschließend zum Präsidenten gewählt wurden. Obwohl in seiner Amtszeit der Ostblock zusammenbrach und die USA plötzlich die einzige verbliebene Weltmacht waren, zog der undankbare Wähler dann den jugendlicheren Bill Clinton vor. Dass George W. Bush anschließend den Vater rächen konnte, verdankte er Dick Cheney. Der war Stabschef bei Gerald Ford gewesen und Verteidigungsminister beim älteren Bush, hatte in der Wirtschaft viel Geld verdient und schließlich das Glück, mit der Familie so vertraut zu sein, dass ihn der Jüngere 2001 zu seinem Vizepräsidenten machte. Mit der Erfahrung aus dem ersten amerikanischen Golfkrieg drängte Cheney die USA in weitere Kriege, unter dessen Folgen das Land zumindest finanziell bis heute leidet.

Hillary Clinton hat die Präsidentschaftswahl 2016 noch unglücklicher verloren als vor ihr der ehemalige Vize Al Gore - die Mehrheit der Stimmen reichte nicht für die Mehrheit der Wahlmänner.

Eine Vizepräsidentin gab es noch nie - außer vielleicht Eleanor Roosevelt

In den USA wird es demnach auf absehbare Zeit keine Präsidentin geben. Bisher gab es auch keine Frau in der Stellvertreterposition. Allerdings gab es eine, die - ohne formales Amt - im Schatten des Präsidenten erfolgreich und sogar segensreich wirkte, zum Guten nämlich und nicht zum Bösen: Eleanor Roosevelt. Sie war keine First Lady, sondern eine Aktivistin, beschickte eine Zeitungskolumne, sprach im Rundfunk, trat bei unzähligen Vereinen und Veranstaltungen auf und machte ihren Mann und seine Politik erst richtig populär.

Als Propagandistin seines New Deal war sie so bekannt, dass sie nach Roosevelts Tod als Krypto-Kommunistin galt. Der FBI-Chef J. Edgar Hoover hasste sie leidenschaftlich. In der Verschwörung, die der Senator Joseph McCarthy witterte, war sie die Spinne, die Moskau in den Vereinigten Staaten platziert hatte. Die Wahrheit war bescheidener: Eleanor Roosevelt war die treibende Kraft bei der Umwandlung der Demokraten von einer Grundbesitzer- und Sklavenhalterpartei in ein halbwegs liberales Unternehmen. Nach dem Tod ihres Mannes engagierte sie sich für die Vereinten Nationen, war beteiligt an der Verkündung der Allgemeinen Menschenrechte und beriet noch John F. Kennedy. Sie starb 1962 wie eine Kaiserin. Zur Trauerfeier erschienen nicht bloß der amtierende Präsident Kennedy und sein Vize Johnson, sondern es kamen auch die ehemaligen Präsidenten Eisenhower und Truman. Aber Amerika ist ja auch eine Monarchie.

© SZ vom 09.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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