Bundesverfassungsgericht:Die neue Bibel für den Verfassungsschutz

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"Im Spannungsfeld zweier Herzensanliegen unserer Verfassung": Stephan Harbarth, Vorsitzender des Ersten Senats und Präsident des Bundesverfassungsgerichts, bei der Urteilsverkündung am Dienstag. (Foto: Uli Deck/dpa)

Karlsruhe hat über das bayerische Verfassungsschutzgesetz geurteilt. Es ist ein regelrechter Rundumschlag, mit dem das Gericht der Überwachung durch die Geheimdienste Grenzen setzt.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgericht, wollte wollte gleich zu Beginn der Urteilsverkündung keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass dem Gericht durchaus an der Sicherheit der Republik gelegen sei. Klar, der Erste Senat hatte soeben das bayerische Verfassungsschutzgesetz in so vielen Punkten gerügt, dass allein das Vorlesen der grundgesetzwidrigen Paragrafen mehr Atem erforderte als ein langer Triller auf der Querflöte. Aber das Urteil bewege sich "im Spannungsfeld zweier Herzensanliegen unserer Verfassung, der wehrhaften Demokratie einerseits und des Schutzes persönlicher Freiheit andererseits", beschwichtigte er. Soll heißen: Der Verfassungsschutz wird nicht kaltgestellt.

Bayern hatte 2016 die Befugnisse des Verfassungsschutzes umfassend reformiert, was Kritikern Gelegenheit gab, das neue Gesetz in voller Schönheit gerichtlich prüfen zu lassen. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) unterstützte Verfassungsbeschwerden dreier Mitglieder der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten", vom bayerischen Verfassungsschutz als "linksextremistisch beeinflusste Organisation" eingestuft. In der Verhandlung im Dezember hatte die als Berichterstatterin zuständige Richterin Gabriele Britz gesagt, das Gericht habe ja schon häufiger über das Thema Überwachung entschieden - aber noch nie so umfassend.

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Es war also eine günstige Ausgangssituation, die dem Gericht einen regelrechten Rundumschlag erlaubte, der übrigens nicht nur Bayern getroffen hat: "Es müssen wahrscheinlich der Bund und alle Länder ihre Gesetze ändern" sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) in Karlsruhe. "Denn es gibt nach meiner Kenntnis kein einziges Gesetz, das all diesen Vorgaben, die heute formuliert worden sind, entspricht."

Das buchdicke Urteil ist letztlich die neue Bibel für den Verfassungsschutz. Es regelt den Anfang und das Ende. Am Beginn jeder Beobachtung müssen tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen erkennbar sein. Weder genügt ein vager Verdacht noch die "bloße Kritik an Verfassungsgrundsätzen", schreibt das Gericht. Dann die Sprache der Paragrafen: Sie müssen klar und eindeutig formuliert sein und nicht so diffus, dass aus einer ganz normalen Handy-Ortung wie aus Versehen ein dichtes Bewegungsprofil entstehen kann.

Der Informationsaustausch der Sicherheitsbehörden wird eingeschränkt

Beim äußerst sensiblen Verwanzen von Wohnungen wie auch bei der Online-Durchsuchung hat das Gericht die Hürden besonders hoch gelegt. Eine Klärung war notwendig, denn eigentlich gilt der Grundsatz: Der Verfassungsschutz genießt weitreichende Befugnisse bei der Überwachung, weil er - im Unterschied zur Polizei - nicht über operative Befugnisse verfügt. Weil er also keine Haftbefehle erlassen und Beweismittel beschlagnahmen darf. Wo die Menschen aber bis in den privatesten Winkel durchleuchtet werden sollen, da bleibt dem Verfassungsschutz laut Gericht nur noch eine Reservekompetenz, wie eben beim Abhören von Wohnungen. Was verschmerzbar sein dürfte, weil die Dienste davon so gut wie nie Gebrauch machen.

Von großer Bedeutung dürften zudem die Klarstellungen unter der harmlos anmutenden Überschrift "Übermittlungsbefugnisse" sein. Gemeint ist damit die brisante Frage, wann Sicherheitsbehörden ihre Erkenntnisse austauschen dürfen. Politisch ist ein möglichst umfassender Informationsfluss gewollt, damit keine wichtigen Hinweise versickern.

Verfassungsrechtlich gilt eher das Gegenteil. Denn mangels operativer Befugnisse haben die Dienste freiere Hand bei der Gewinnung von Informationen (wie gesagt, abgesehen von Wohnraumüberwachung und Online-Durchsuchung). Deshalb würde ein unbeschränkter Info-Tausch den Schutz der Bürgerrechte schlicht unterlaufen; die Strafverfolger zum Beispiel könnten sich, was sie selbst nicht erheben dürfen, bei den Geheimdiensten besorgen. Karlsruhe hatte hier schon früher Grenzen eingezogen, die nun präzisiert wurden. Nur was eine Behörde selbst erheben dürfte, kann sie auch bei anderen Behörden anfordern. Die Brücke zwischen Polizei und Verfassungsschutz ist also schmaler geworden.

Bayern muss bis Juli 2023 ein neues Gesetz erlassen

Es ist ein Urteil mit vielen Facetten, das zudem manch abstrakte Vorschrift mit Leben füllt. Der Einsatz verdeckter Mitarbeiter mag, verglichen mit Wanzen im Wohnzimmer, nicht so gefährlich wirken. Aber "durch diese Maßnahmen kann eine vermeintliche Vertrauensbeziehung zunächst aufgebaut und dann ausgenutzt werden", erläutert das Gericht. Das klingt, im Jargon der Stasi, nach Romeo- oder Venus-Fallen - viel intimer kann staatliche Überwachung kaum sein. Das ist alles andere als harmlos, "das kann sehr schwer wiegen", stellt das Gericht klar.

Bayern hat nun bis Ende Juli 2023 Zeit, ein neues Gesetz zu erlassen. Darin wird auch stehen müssen, wie der Dienst kontrolliert wird. Das Wort "Vorabkontrolle" tauchte ziemlich oft im Urteil auf. Es könnte also auf eine Art G10-Kommission hinauslaufen, nicht nur fürs Abhören von Telefonen, sondern für die Kontrolle des gesamten Instrumentenkastens, vom Einsatz verdeckter Ermittler über Handyortung bis zur Observation im öffentlichen Raum. Kontrolle und Geheimdienst, das verträgt sich nicht? Doch, findet das Gericht: Niemand im Verfahren habe plausibel erklären können, warum eine externe Kontrolle beim Verfassungsschutz nicht funktionieren solle.

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