USA:USA liefern Ukraine Streumunition

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Eine Streubombe, die bei einem Angriff der russischen Armee außerhalb der ukrainischen Stadt Charkiw niedergegangen ist. (Foto: IVAN ALVARADO/REUTERS)

Präsident Joe Biden sagt dem Land nach langem Zögern geächtete Geschosse zu. Die Nato-Partner zeigen Verständnis - obwohl sie selbst den Einsatz verboten haben.

Von Fabian Fellmann, Washington

Streumunition ist eine gefürchtete Waffe. Das Geschoss zerspringt in Dutzende kleinere Sprengkörper, die sich auf eine Fläche von mehr als drei Fußballfeldern verteilen. Unter Beschuss geraten damit nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten - und zwar über Generationen. Weil ein beachtlicher Teil von Streumunition nicht sofort explodiert, bleiben ganze Landstriche mit Blindgängern verseucht. Besonders Kinder zahlen dafür auch Jahrzehnte nach Kriegsende einen hohen Preis. 123 Staaten haben Streumunition deshalb mit der Osloer Konvention geächtet.

(Foto: SZ-Grafik: jje)

Dennoch hat US-Präsident Joe Biden entschieden, der Ukraine Streumunition für Haubitzen liefern zu lassen - "nicht dauerhaft, sondern für eine Übergangszeit", wie er am Freitag in einem Interview erklärte. Die Vereinigten Staaten haben die Konvention nicht unterzeichnet, ebenso wenig wie die Ukraine und Russland. Im laufenden Krieg haben sowohl die Verteidiger als auch die Angreifer Streumunition eingesetzt, wie Menschenrechtsorganisationen kritisieren. Die ukrainischen Bestände scheinen indes zur Neige zu gehen. Seit Längerem verlangt Kiew darum mehr Munition und Ausrüstung. Die Forderungen sind dringlicher geworden, weil die Gegenoffensive im Südosten des Landes nur zäh vorankommt, unter anderem, weil russische Streumunition auf die ukrainischen Soldaten niederprasselt. Mithilfe der amerikanischen Granaten hofft die Ukraine, die Gegenseite aus den Schützengräben zu vertreiben.

Biden hat monatelang gezögert, der Ukraine Streumunition zu überlassen. Nun aber gehen die Bestände herkömmlicher Artilleriegranaten in den USA und bei den Nato-Verbündeten zur Neige. Von Streumunition hingegen halten die USA noch etwa fünf Millionen Stück auf Lager, sowohl Artilleriegranaten als auch Raketen. Seit dem Korea-Krieg in den 1950er-Jahren haben sie diese regelmäßig eingesetzt, neue Streumunition beschaffen sie indes ebenfalls nicht mehr. Obwohl das Land sich nicht durch die Osloer Konvention binden lassen wollte, hat der Kongress seit 2017 den Einsatz und die Lieferung stark eingeschränkt: Erlaubt sind sie nur, wenn der Anteil der Blindgänger unter einem Prozent liegt. Darüber kann sich der US-Präsident zur Wahrung der nationalen Sicherheitsinteressen hinwegsetzen.

Der amerikanische Präsident ist sich bewusst, wie heikel seine Entscheidung ist

Amerikanische Regierungsvertreter versicherten am Donnerstag, sie träten der Ukraine nur Munition mit tiefer Fehlerrate ab: Die Granaten für die M864-Haubitzen zerspringen in 72 Teile, davon seien exakt 2,35 Prozent Blindgänger, behauptet das Verteidigungsministerium. Es weigert sich indes, die Studien zu veröffentlichen. Laut dem Recherchedienst des Kongresses beziffern Hersteller die Fehlerrate auf 3 bis 5 Prozent, Minenräumer schätzen sie auf 10 bis gegen 30 Prozent.

Die Beschwichtigungen der US-Regierung belegen, dass Biden sich sehr bewusst ist, wie heikel seine Entscheidung ist. Innenpolitisch überraschend stabil ist bisher der Konsens, dass die Ukraine zu unterstützen sei. Die Kritik nimmt allerdings mit fortlaufender Dauer des Kriegs zu, und die Lieferung von Streumunition an die Ukraine untergräbt nun die Argumentation, die USA unterstützten in dem Konflikt die Guten gegen die Bösen.

Auch außenpolitisch machen sich die Vereinigten Staaten angreifbar, indem sie international geächtete Munition in Umlauf bringen. Die Mehrheit der Nato-Länder etwa ist der Osloer Konvention beigetreten. Entsprechend wird sich Biden erklären müssen, wenn er am Wochenende nach Europa reist, um nächste Woche am Nato-Gipfel in Vilnius teilzunehmen.

Die Bundesregierung signalisiert indes Verständnis. Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte nach einem Arbeitstreffen in Bern, Deutschland werde keine Streumunition liefern, weil man die Osloer Konvention unterschrieben habe. Regierungssprecher Steffen Hebestreit aber nahm die Amerikaner in Schutz: "Wir sind uns sicher, dass sich unsere US-Freunde die Entscheidung über eine Lieferung entsprechender Munition nicht leicht gemacht haben." Teil der Sprachregelung ist, dass die Streumunition in "einer besonderen Konstellation" verwendet werde: "Die Ukraine setzt eine Munition zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung ein. Es geht um einen Einsatz durch die eigene Regierung zur Befreiung des eigenen Territoriums", sagte Hebestreit. "Wir sollten uns also auch noch mal vergegenwärtigen, dass Russland in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits in großem Umfang Streumunition eingesetzt hat."

Kein Zufall dürfte sein, dass das Weiße Haus gleichzeitig Hoffnungen auf ein Kriegsende schürt. Ehemalige US-Diplomaten hätten in Moskau Kontakte geknüpft für Friedensgespräche, berichtete diese Woche NBC. Auch CIA-Direktor Bill Burns unterhielt sich bei einem Besuch in Kiew darüber: Ihm sagten die Ukrainer, Russland werde in Verhandlungen einwilligen, wenn sich ihre Truppen der Halbinsel Krim näherten. Das setzt voraus, dass die Gegenoffensive vorankommt - dank amerikanischer Streumunition.

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