Humanitäre Lage in Gaza:Israel öffnet weiteren Grenzübergang nach Gaza

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Hunderttausende hungern, Kleinkinder sind an Unterernährung gestorben: Der US-Präsident hat den Druck auf Israel erhöht, die Not in Gaza zu lindern. (Foto: Mahmoud Issa/Reuters)

US-Präsident Biden droht Israel zum ersten Mal mit Konsequenzen. Und hat sofort Erfolg: Premier Netanjahu will mehr Hilfslieferungen in die Kriegsregion zulassen.

Von Bernd Dörries und Fabian Fellmann, Kairo/Washington

Eine der letzten aktuellen Aufnahmen, die man vom Grenzübergang Erez zu sehen bekam, war ein Bild der Zerstörung: Man sah den Übergang zwischen Israel und dem Norden des Gazastreifens, wie ihn die Terroristen der Hamas hinterlassen hatten: ein zerstörtes Wachhaus, verbeulte Wellblechteile, unheimliche Stille. Erez war einer der Punkte, an denen die Hamas nach Israel eindrang, bevor sie dort etwa 1200 Menschen ermordete und Hunderte entführte. Etwa 100 von ihnen werden noch immer im Gazastreifen gefangengehalten.

Bald sollen wieder andere Bilder kommen, am Freitag teilte das Büro von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit, dass der Grenzübergang Erez wieder geöffnet werden soll: für Hilfslieferungen in den Gazastreifen. "Diese verstärkte Hilfe wird eine humanitäre Krise verhindern", hieß es. Damit erhöht sich die Zahl der offenen Grenzübergänge nach Gaza von zwei auf drei. Israel teilte zudem mit, dass auch der israelische Hafen Aschdod für Hilfslieferungen geöffnet werde.

Biden forderte "spezifische, konkrete und messbare Schritte" ein

Der Schritt resultierte aus monatelangem Druck der USA und vieler europäischer Staaten, mehr zur Versorgung der Palästinenser zu tun. Hunderttausende von ihnen sind durch eine akute Hungersnot bedroht, mehr als 20 Kleinkinder sind bereits an Unterernährung gestorben. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hatte Israel bereits Ende Januar aufgefordert, mehr Hilfe ins Land zu lassen. Die Zahl der Lastwagen, die nach Gaza durften, war aber in all den Monaten der Not nicht über durchschnittlich 200 Lkw am Tag hinausgekommen. Vor dem Krieg waren es mehr als 500 gewesen.

Die Ankündigung aus Netanjahus Büro kam nur wenigen Stunden, nachdem US-Präsident Joe Biden erstmals mit Konsequenzen gedroht hatte, falls Israel nicht endlich reagiert. In einem Telefonat mit dem Premier in der Nacht zu Freitag sagte Biden, Israel müsse "spezifische, konkrete und messbare Schritte" ankündigen und umsetzen, um Schaden für Zivilisten und menschliches Leid zu vermeiden und die Sicherheit von Helfern zu garantieren. Biden wurde dabei offenbar sehr deutlich. Er habe klargemacht, sagte sein Sprecher, dass seine "Gaza-Politik davon bestimmt wird, wie wir Israels unmittelbare Umsetzung dieser Schritte bewerten".

Das Telefonat folgte auf den Tod von sieben Helfern der Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK). Sie waren von der israelischen Armee in der Nacht zu Dienstag getötet worden, obwohl sie ihre Einsatzroute zuvor mit der Armee abgesprochen hatten. Der Vorfall löste internationale Empörung aus, die Armee übernahm die Verantwortung und sprach von einem Versehen. Dem widersprach der Gründer von WCK, der prominente Koch José Andrés. "Dies war nicht nur eine Pechsträhne, bei der wir - ups - eine Bombe an der falschen Stelle abgeworfen haben", sagte Andrés im bitter-ironischen Ton der Nachrichtenagentur Reuters. Er betonte, dass die Fahrzeuge seines Teams deutlich gekennzeichnet waren.

Die Armee hat nach der Tötung der WCK-Helfer hochrangige Offiziere entlassen

Am Freitag teilte die israelische Armee mit, sie habe zwei hochrangige Offiziere der in den Vorfall verwickelten Einheit aus dem Dienst entlassen. Alle Beweise und Indizien des Falls seien an den Militärgeneralanwalt weitergeleitet worden, zudem würden hochrangige Kommandeure formell gerügt. Bei dem Luftangriff habe es Verstöße gegen gängige Einsatzvorschriften gegeben, so das israelische Militär. Eine Untersuchung habe ergeben, dass einige WCK-Mitarbeiter des aus drei Fahrzeugen bestehenden Konvois die ersten Luftangriffe überlebten, aber getötet wurden, als sie sich im dritten und bis dahin nicht getroffenen Auto in Sicherheit bringen wollten.

Die US-Regierung kündigte am Freitag an, die vom israelischen Militär veröffentlichte Untersuchung genau prüfen zu wollen. In den kommenden Tagen werde man die Schlussfolgerungen aus dem Bericht sowohl mit israelischen Beamten als auch mit Vertretern von humanitären Hilfsorganisationen erörtern. "Es war sehr klar ist, wer wir sind und was wir tun", sagte WCK-Gründer Andrés. Der Konvoi seiner Organisation sei "systematisch, Auto für Auto" angegriffen worden.

Der US-Präsident hatte schon vor dem tödlichen Angriff auf die WCK-Helfer mehrfach signalisiert, dass er die Geduld mit dem israelischen Ministerpräsidenten verliert. Allerdings hatte er sich bislang darauf beschränkt, den Tonfall gegenüber Netanjahu zu verschärfen, ohne mit Konsequenzen zu drohen.

Bidens Verhalten dürfte auch innenpolitische Gründe haben

Das hat sich nun wohl auch deshalb verändert, weil Biden in der eigenen Partei und ihren Wählern auf immer größeren Widerstand trifft. Selbst seine Frau soll ihm gesagt haben: "Stoppe das jetzt." Bei den Vorwahlen am Dienstag in Rhode Island und Wisconsin zeigten die Wähler der Demokraten, wie unzufrieden sie mit Biden sind: Bis zu ein Drittel von ihnen kreuzte auf dem Wahlzettel an, noch unentschieden zu sein. Das war zuvor auch schon im wichtigen Swing State Michigan so geschehen.

Das Telefonat mit Netanjahu war auch ein Signal an muslimische Wähler in den USA, von denen sich viele von den Demokraten abzuwenden drohen. Eine ganze Reihe von Anführern muslimischer Gruppen schlug eine Einladung des US-Präsidenten für ein Ramadan-Essen im Weißen Haus am Dienstag aus. "Wie können wir mit Ihnen bei Brot und Steak über Hunger reden?", habe er geantwortet, sagte ein palästinensisch-amerikanischer Arzt der New York Times. Stattdessen teilten die Eingeladenen Biden bei einem Arbeitstreffen ihren Schmerz mit. Und erzielten womöglich eine Wirkung.

In Gaza wird es aber wohl noch dauern, bis die Hilfe die Bedürftigen erreicht. In weiten Teilen des besetzten Gebietes ist die Infrastruktur zerstört, die öffentliche Ordnung zusammengebrochen. Besonders im Norden, im Bereich des Grenzübergangs Erez, sind kaum Hilfsorganisationen zugegen, die Essen verteilen könnten, dem Hilfswerk UNRWA hatte Israel bereits vor Wochen den Zugang verboten. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mahnte Israel, die jetzt gegebenen Zusagen auch einzuhalten. "Wir erwarten, dass die israelische Regierung ihre Ankündigungen rasch umsetzt. Keine Ausreden mehr", schrieb sie auf Twitter.

Der internationale Druck auf Israel, seine Kriegsführung zu ändern, bleibt bestehen. Der UN-Menschenrechtsrat forderte am Freitag einen Stopp der Waffenverkäufe an Israel. In einer Resolution verlangte das in Genf ansässige Gremium, wegen der "möglichen Gefahr eines Völkermords im Gazastreifen" jegliche Waffenlieferungen einzustellen.

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