144 Mal taucht auf den 72 Seiten des Regierungsberichts das Wort "sozialistisch" auf, das mehr oder weniger für alle Vorschläge der Demokraten verwendet wird. Das Konzept der gebührenfreien Universität etwa wird hier im gleichen unheilsverkündenden Tonfall wie Gräueltaten von Lenin und Mao Zedong beschrieben. Sollten die Demokraten weiterhin dem sozialistischen Venezuela nacheifern, würde das Bruttoinlandsprodukt der USA um 40 Prozent schrumpfen, warnen die Autoren.
Den Amerikanern Angst vor der "Roten Bedrohung" einzujagen, hat Tradition. "Schon Ronald Reagan sagte 1961 voraus, dass die Einführung von Medicare [eine Krankenversicherung für Menschen über 65; Anm. d. Red.] schnurstracks in den Sozialismus führen wird", sagt Kazin.
Trotz der konservativen Panik-Rhetorik gibt es allerdings keine Anzeichen dafür, dass in der Bevölkerung die Angst vor Sozialismus wächst. Die Umfragen liefern seit zehn Jahren in etwa das gleiche Ergebnis. In einer Gallup-Studie vom August 2018 hatten die Demokraten sogar ein positiveres Bild vom Sozialismus (57 Prozent) als vom Kapitalismus (47 Prozent). Unter den Republikanern konnten - wenig überraschend - nur 16 Prozent dem Sozialismus etwas abgewinnen, 71 Prozent fanden den Kapitalismus besser.
Vor allem junge Amerikaner zwischen 18 und 29 Jahren (51 Prozent) halten das sozialdemokratische Modell für attraktiv. "Obwohl die meisten Amerikaner wenig wissen über die Geschichte des Sozialismus - und über die vielen Arten von Sozialisten, die immer schon existiert haben - mögen viele die Idee einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft, die sie kennen", sagt Kazin. Gerade Amerikaner unter 35 Jahren seien von der Finanzkrise und den folgenden Jahren der Rezession geprägt. Ihre Rebellion nahm mit der Occupy-Wallstreet-Bewegung 2011 erstmals sichtbare Formen an. Und sie zeigte sich im Wahlkampf 2016, als Bernie Sanders mit seiner Botschaft von einer gerechteren US-Gesellschaft besonders die Millennials begeisterte.
Aber wenn so viele Amerikaner ein sozialdemokratischer orientiertes Land möchten, dessen Fundament auf progressiver Besteuerung beruht und seine Bürger mithilfe eines Sicherheitsnetzes vor extremen Härtefällen schützt - warum ist dann nicht von der Sozialdemokratie die Rede? "Sozial-Demokraten" wurden in den USA nie populär, wohl um eine Verwechslung mit der Demokratischen Partei zu vermeiden, glaubt Kazin.
Joe Kennedy schlägt den Ausdruck "moralischer Kapitalismus" vor
Die größte linke Organisation in den USA nennt sich deshalb "Democratic Socialists of America" (DSA). Die meisten ihrer 55 000 Mitglieder verfolgen klassische sozialdemokratische Ziele. "Aber es gibt auch Splittergruppen, die den Kapitalismus am liebsten ganz abschaffen wollen, eine Fraktion spricht sich törichterweise sogar für 'Kommunismus' aus", erklärt Kazin.
In Teilen der Partei ist deshalb eine Diskussion entflammt, ob den Demokraten - gerade im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2020 - mit dem Begriff Sozialismus geholfen ist. Bernie Sanders' Spendeneinnahmen in Höhe von sensationellen 3,3 Millionen Dollar gleich am ersten Tag nach Verkündigung seiner erneuten Kandidatur könnten zumindest ein Zeichen dafür sein, dass die Amerikaner nicht mehr ganz so viel Angst vor dem Sozialismus - sprich vor sozialdemokratischen Ideen - haben, wie die Konservativen es gerne glauben möchten.
Joseph Kennedy III., Abgeordneter aus Massachusetts und Spross der berühmten Kennedy-Familie, schlägt vor, einen neuen Ausdruck einzuführen: Er spricht von "moralischem Kapitalismus", meint damit aber im Grunde die Idee einer sozialen Marktwirtschaft, wie man sie in Europa kennt.
Die neue Terminologie könnte noch Karriere machen. Spätestens dann, wenn Donald Trump und die Republikaner im Wahlkampf in jedem einzelnen demokratischen Kandidaten die Wiedergeburt von Karl Marx sehen. Und die Demokraten vielleicht merken, dass sie mit "Sozialismus" in den USA keine Wahlen gewinnen.