Wer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden will, muss damit leben, dass jedes Wort, jede Geste, jedes Argument, jeder öffentliche Fehltritt genauestens analysiert und vom politischen Gegner auf Schwächen abgeklopft wird. Man sollte vor der Wahl in der Lage sein, eine liebenswerte, möglichst intakte Familie präsentieren zu können, mehr oder weniger Pflicht ist außerdem die Vorlage früherer Steuerbescheide sowie gegebenenfalls ärztlicher Dokumente, die auf den Gesundheitszustand schließen lassen.
Doch das ist noch nicht alles.
Er oder sie muss sich im Klaren sein, dass auch das gesamte Vorleben Gegenstand der öffentlichen Debatte werden kann. Das Private ist politisch, hieß es bei der Studentenbewegung in den späten Sechzigerjahren und auch wenn es damals ganz anders gemeint war, gilt dieses Prinzip auch im US-Präsidentschaftswahlkampf. Unbedachte Kommentare, peinliche Auftritte, skandalöse Verwicklungen - und seien sie Jahre oder Jahrzehnte alt - können jederzeit ans Licht kommen. In den Wahlkampfzentralen der Kandidaten, die nicht umsonst War Rooms genannt werden, gibt es Teams, deren einzige Aufgabe es ist, in der Vergangenheit des Konkurrenten nach Dreck zu wühlen. Negative Campaigning nennen Wahlforscher diese Taktik.
Donald Trump erlebt gerade, was das bedeutet. Es geht um ein elf Jahre altes Video, das die Washington Post veröffentlicht hat. Es dokumentiert, wie Trump mit dem TV-Moderator Billy Bush vor einer Sendung über Frauen spricht.
Niemand weiß genau, aus welcher Quelle das Material stammt. Es ist nicht dokumentiert, warum es seit 2005 offenbar verschwunden war und gerade jetzt aufgetaucht ist. Das Material stammt vom Sender NBC. Die Nachrichtensendung des Kanalds wollte das Video nach eigenen Angaben später ausstrahlen, die Washington Post kam dem Sender zuvor. Das Material zeigt der Öffentlichkeit keine neue Seite des Donald Trump. Wer einigermaßen informiert ist über den US-Wahlkampf, wird kaum sagen können: Das hätte ich niemals von ihm gedacht.
Trotzdem ist das Material dreckig genug, dass es Trump, weniger als 48 Stunden vor dem zweiten TV-Duell mit Hillary Clinton, den Sieg kosten kann.
"Ich habs versucht. Ich wollte sie ficken (...) Ich habe wie eine Bitch versucht, mich an sie ranzumachen. Aber es klappte nicht. Sie war verheiratet. Und dann sehe ich sie wieder. Sie hatte große, falsche Titten. Sie hatte ihr ganzes Aussehen verändert (...) Weißt Du, ich fühle mich automatisch zu den Schönen hingezogen, ich beginne, sie zu küssen. Es ist wie ein Magnet. Einfach nur küssen. Ich warte nicht einmal. Und wenn du ein Star bist, lassen sie dich alles machen (...) Ihnen an die Pussy fassen, alles."
Darf ein Mann, der US-Präsident werden will, so etwas sagen? Kann er alles ungeschehen machen mit einem dürren 90-Sekunden-Statement des Bedauerns, wie es Trump am späten Freitagabend veröffentlichte? Kann er sich herausreden mit der Behauptung, dass Männer wie Bill Clinton viel Schlimmeres getan und "tatsächlich Frauen missbraucht" haben?
Darüber diskutiert nun ganz Amerika. Die Haltung vieler professioneller Beobachter: Diesmal hat Trump es übertrieben.
Die Äußerungen sind vulgär, anmaßend, sexistisch, frauenverachtend. Sie zeugen von der Haltung eines alten, dicken, mächtigen Mannes, der glaubt, sich alles erlauben und mit Geld alles kaufen zu können.
Falls sich jemand angegriffen fühlt
Die Realität des US-Wahlkampfes ist jedoch: Bisher kam Trump mit dieser Haltung durch. Auszug aus einer - unvollständigen - Liste, die der TV-Sender CNN aus aktuellen und länger zurückliegenden Äußerungen zusammengetragen hat: Trump nennt die Gewinnerin eines von ihm veranstalteten Schönheitswettbewerbs "Miss Piggy und "Fressmaschine". Er beleidigt Journalistinnen, die ihm kritische Fragen stellen, äußert sich über deren "fettes, hässliches Gesicht", über "Blut, das aus ihren Augen oder woher auch immer herausfließt" oder sagt, dass sie ihren Job nur wegen ihres Aussehens bekommen haben. Er fragt sich, wenn Hillary Clinton schon ihren Mann nicht befriedigen könne, wie sie dann Amerika befriedigen wolle.
Zu dem jetzt veröffentlichten Video schreibt Trump auf seiner Internetseite: "Ich entschuldige mich. Falls sich jemand angegriffen fühlt".
Falls sich jemand angegriffen fühlt?
"Es ist nachvollziehbar, dass er sich das fragt", heißt es in einem Kommentar der New York Times. Bisher haben ihn Millionen Anhänger treu unterstützt. Sie waren nicht geschockt, als er Muslime aus dem Land werfen oder an der Grenze zu Mexiko eine Mauer bauen wollte. Sie haben sich nicht abgewendet, als er sich abfällig über dicke Frauen und Behinderte äußerte, als er gegen Minderheiten und Migranten hetzte, als er die Folter wieder einführen wollte oder laut überlegte, ob Waffenbesitzer Hillary Clinton möglicherweise stoppen könnten.