Süddeutsche Zeitung

US-Wahl:Trumps tausend Skandale - jetzt ist es einer zu viel

Wäre das Video, in dem der Republikaner über "Pussys" spricht, vor einem halben Jahr geleakt worden, er hätte es wohl politisch überstanden. Doch die Debatte ist jetzt eine völlig andere.

Analyse von Oliver Klasen

Wer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden will, muss damit leben, dass jedes Wort, jede Geste, jedes Argument, jeder öffentliche Fehltritt genauestens analysiert und vom politischen Gegner auf Schwächen abgeklopft wird. Man sollte vor der Wahl in der Lage sein, eine liebenswerte, möglichst intakte Familie präsentieren zu können, mehr oder weniger Pflicht ist außerdem die Vorlage früherer Steuerbescheide sowie gegebenenfalls ärztlicher Dokumente, die auf den Gesundheitszustand schließen lassen.

Doch das ist noch nicht alles.

Er oder sie muss sich im Klaren sein, dass auch das gesamte Vorleben Gegenstand der öffentlichen Debatte werden kann. Das Private ist politisch, hieß es bei der Studentenbewegung in den späten Sechzigerjahren und auch wenn es damals ganz anders gemeint war, gilt dieses Prinzip auch im US-Präsidentschaftswahlkampf. Unbedachte Kommentare, peinliche Auftritte, skandalöse Verwicklungen - und seien sie Jahre oder Jahrzehnte alt - können jederzeit ans Licht kommen. In den Wahlkampfzentralen der Kandidaten, die nicht umsonst War Rooms genannt werden, gibt es Teams, deren einzige Aufgabe es ist, in der Vergangenheit des Konkurrenten nach Dreck zu wühlen. Negative Campaigning nennen Wahlforscher diese Taktik.

Donald Trump erlebt gerade, was das bedeutet. Es geht um ein elf Jahre altes Video, das die Washington Post veröffentlicht hat. Es dokumentiert, wie Trump mit dem TV-Moderator Billy Bush vor einer Sendung über Frauen spricht.

Niemand weiß genau, aus welcher Quelle das Material stammt. Es ist nicht dokumentiert, warum es seit 2005 offenbar verschwunden war und gerade jetzt aufgetaucht ist. Das Material stammt vom Sender NBC. Die Nachrichtensendung des Kanalds wollte das Video nach eigenen Angaben später ausstrahlen, die Washington Post kam dem Sender zuvor. Das Material zeigt der Öffentlichkeit keine neue Seite des Donald Trump. Wer einigermaßen informiert ist über den US-Wahlkampf, wird kaum sagen können: Das hätte ich niemals von ihm gedacht.

Trotzdem ist das Material dreckig genug, dass es Trump, weniger als 48 Stunden vor dem zweiten TV-Duell mit Hillary Clinton, den Sieg kosten kann.

"Ich habs versucht. Ich wollte sie ficken (...) Ich habe wie eine Bitch versucht, mich an sie ranzumachen. Aber es klappte nicht. Sie war verheiratet. Und dann sehe ich sie wieder. Sie hatte große, falsche Titten. Sie hatte ihr ganzes Aussehen verändert (...) Weißt Du, ich fühle mich automatisch zu den Schönen hingezogen, ich beginne, sie zu küssen. Es ist wie ein Magnet. Einfach nur küssen. Ich warte nicht einmal. Und wenn du ein Star bist, lassen sie dich alles machen (...) Ihnen an die Pussy fassen, alles."

Darf ein Mann, der US-Präsident werden will, so etwas sagen? Kann er alles ungeschehen machen mit einem dürren 90-Sekunden-Statement des Bedauerns, wie es Trump am späten Freitagabend veröffentlichte? Kann er sich herausreden mit der Behauptung, dass Männer wie Bill Clinton viel Schlimmeres getan und "tatsächlich Frauen missbraucht" haben?

Darüber diskutiert nun ganz Amerika. Die Haltung vieler professioneller Beobachter: Diesmal hat Trump es übertrieben.

Die Äußerungen sind vulgär, anmaßend, sexistisch, frauenverachtend. Sie zeugen von der Haltung eines alten, dicken, mächtigen Mannes, der glaubt, sich alles erlauben und mit Geld alles kaufen zu können.

Falls sich jemand angegriffen fühlt

Die Realität des US-Wahlkampfes ist jedoch: Bisher kam Trump mit dieser Haltung durch. Auszug aus einer - unvollständigen - Liste, die der TV-Sender CNN aus aktuellen und länger zurückliegenden Äußerungen zusammengetragen hat: Trump nennt die Gewinnerin eines von ihm veranstalteten Schönheitswettbewerbs "Miss Piggy und "Fressmaschine". Er beleidigt Journalistinnen, die ihm kritische Fragen stellen, äußert sich über deren "fettes, hässliches Gesicht", über "Blut, das aus ihren Augen oder woher auch immer herausfließt" oder sagt, dass sie ihren Job nur wegen ihres Aussehens bekommen haben. Er fragt sich, wenn Hillary Clinton schon ihren Mann nicht befriedigen könne, wie sie dann Amerika befriedigen wolle.

Zu dem jetzt veröffentlichten Video schreibt Trump auf seiner Internetseite: "Ich entschuldige mich. Falls sich jemand angegriffen fühlt".

Falls sich jemand angegriffen fühlt?

"Es ist nachvollziehbar, dass er sich das fragt", heißt es in einem Kommentar der New York Times. Bisher haben ihn Millionen Anhänger treu unterstützt. Sie waren nicht geschockt, als er Muslime aus dem Land werfen oder an der Grenze zu Mexiko eine Mauer bauen wollte. Sie haben sich nicht abgewendet, als er sich abfällig über dicke Frauen und Behinderte äußerte, als er gegen Minderheiten und Migranten hetzte, als er die Folter wieder einführen wollte oder laut überlegte, ob Waffenbesitzer Hillary Clinton möglicherweise stoppen könnten.

Es gab und gibt in relevanten Teilen der US-Öffentlichkeit das Bedürfnis nach einem Politiker, der sich als Prolet inszeniert, der es "denen in Washington D.C." mal richtig zeigt und den ganzen Laden auseinandernimmt - ein Motiv, das in der politischen Kultur der USA seit jeher tief verankert ist. Es gibt das Bedürfnis nach jemandem, der auf political correctness und Minderheitenschutz einen feuchten Kehricht gibt und Amerika im Grunde führt wie ein Geschäftsmann seinen Betrieb, in dem er schalten und walten kann wie er möchte.

Obwohl es Vorbehalte, offenen Widerstand und sogar Überlegungen für einen innerparteilichen Putsch gab, musste ihn das Establishment der republikanischen Partei am Ende dennoch gewähren lassen. So gelangte Trump dorthin, wo er jetzt steht: Er ist Präsidentschaftskandidat der Republikaner.

Wäre das Video, in dem Trump seine Annäherungsversuche gegenüber dem weiblichen Unterleib beschreibt, vor einem halben Jahr geleakt worden, es hätte ihm womöglich ein oder zwei Tage negative Schlagzeilen beschert. Es wären ein paar empörte Reaktionen aus dem Clinton-Lager gekommen, aber schließlich wäre es wohl in die Liste Trumpscher Schamlosigkeiten einsortiert worden. Eine Liste, die so lang ist, dass die einzelnen Punkte, so heftig sie sein mögen, rasch im ständigen Politgeblubber untergegangen wären. Fernsehleute sagen dazu: Versendet sich.

Landesweite Umfragen: Clinton (blau) gegen Trump (rot)

Trump war zwar auch da schon in der Defensive. In Umfragen lag er zurück. Mit seinen Tiraden hatte er bei großen, relevanten Gruppen wie bei den Hispanics, bei den Schwarzen und bei vielen Frauen einen schweren Stand. Doch er konnte sich der Unterstützung durch das konservative Kernmilieu sicher sein. Und er hatte noch die Chance, einige Wechselwähler zu überzeugen, die der Clinton-Familie kritisch gegenüberstehen. Trump gelang es zudem, in Teilen die Debatte zu bestimmen und die Diskussionspunkte zu setzen. Das gelingt ihm jetzt nicht mehr. Die Demokraten werden wohl dafür sorgen, dass das Video lange präsent bleibt. Einen ersten Erfolg können sie bereits verbuchen. Die von der Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlichten Reden Clintons vor Wall Street-Größen, für die die Demokratin erstens üppig bezahlt wurde und die zweitens ein sehr freundliches Verhältnis zum großen Geld offenbaren, geraten angesichts der Diskussion um Trumps Frauenbild in den Hintergrund.

Der Charakter politischer Diskurse bringt es mit sich, dass die Situation plötzlich kippen kann. Was vor Monaten noch akzeptabel, vielleicht sogar politisch opportun war, ist jetzt unsagbar. Der objektive Gehalt bestimmter Sätze spielt keine Rolle, es geht darum, wie sie von anderen, wichtigen Spielern in diesem Diskurs aufgefasst und eingeordnet werden.

In den USA ist spürbar: Je mehr der Wahlkampf in die Schlussphase geht, desto mehr Ernsthaftigkeit, desto mehr potenziell präsidable Haltung wird von den Kandidaten erwartet. Es ist deshalb der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Videos, der es für Trump so gefährlich macht. Dass Hillary Clinton seine Worte "entsetzlich" nennt und twittert, "wir müssen verhindern, dass dieser Mann Präsident wird", wäre an sich kein Problem. Fatal für den Republikaner ist, dass offenbar führende Vertreter seiner eigenen Partei geneigt sind, Clintons Aussagen zuzustimmen. Dass etwa der frühere Präsidentschaftskandidat John McCain Trumps Worte "unentschuldbar" nennt oder Repräsentantenhaus-Sprecher Paul Ryan sagt: "Es macht mich krank." Gerade erzkonservative Republikaner fragen sich, wie sie Trumps vulgär-sexistische Ausbrüche ihren Töchtern erklären und dabei gleichzeitig das parteiintern so wichtige Ideal der Familie preisen sollen.

Trump stand schon unter Druck, bevor das Video ans Licht kam. In den entscheidenden Swing-States liegt er in Umfragen mehrere Prozentpunkt hinter Clinton. Im ersten TV-Duell vor knapp zwei Wochen lieferte er eine schwache Performance und Experten sind der Meinung, dass die Form des nächsten Aufeinandertreffens, ein sogenanntes Townhall Meeting, mit Fragen aus dem Publikum dem wenig einfühlsamen Trump ohnehin nicht liegt.

Hinzu kommt, dass das Dossier, welches den Titel "Donald Trump und sein Verhalten gegenüber Frauen" tragen könnte, jetzt nicht nur länger geworden ist, sondern auch noch einmal gründlich durchforstet wird. Der Journalist Nicolas Kristof von der New York Times hat in seiner Kolumne bereits ausführlich einen Fall geschildert, der zwar lange zurückliegt, aber eine andere Qualität hat als das, was bisher über Trump bekannt ist.

Klage wegen sexueller Belästigung

Demnach hat Trump Anfang der Neunzigerjahre eine Frau, mit der er über eine geschäftliche Zusammenarbeit verhandelte, in einer seiner Villen sexuell bedrängt und begrapscht. "Ich bewunderte die Dekoration in dem Zimmer und das nächste, was ich weiß, ist, dass er mich an die Wand drückte und dass seine Hände überall an mir waren", mit dieser Aussage wird Jill Harth, so der Name der Frau, in dem Artikel zitiert. Auch bei mindestens einer weiteren Begegnung soll Trump versucht haben, die Frau zum Sex zu drängen. Es kam sogar zu einer Klage wegen sexueller Belästigung, die Harth jedoch zurückzog, weil das eine Bedingung war, damit ein gleichzeitig geführter Prozess um geschäftliche Streitigkeiten mit einem Vergleich beigelegt werden konnte.

Der Fall ist bekannt. Der Boston Globe etwa berichtete im April dieses Jahres darüber. Die Angelegenheit ist juristisch wahrscheinlich abgeschlossen. Jill Harths Verhalten wirft außerdem Fragen auf. Denn es kam später, im Jahr 1998, zu einer kurzen, einvernehmlichen Affäre zwischen Harth und Trump. Und es gibt E-Mails aus dem vergangenen Jahr, in denen Harth Trump viel Erfolg und gute Wünsche für seinen Wahlkampf sendet.

Die USA sind nicht Deutschland, wo ein Kandidat schon in Bedrängnis geraten kann, weil er, wie Rudolf Scharping 1994, brutto und netto verwechselt oder weil er, wie Peer Steinbrück 2013, in einem Interview einen Stinkefinger zeigt.

Doch der Diskurs über Donald Trump und die Frauen ist seit diesem Freitag ein anderer.

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