Ukraine-Gipfel:"Plötzlich kommen Kompromisse in Betracht, die bisher undenkbar waren"

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Ein ukrainischer Soldat in einem Industriegebiet nahe der Stadt Awdijiwka (Awdejewka) in der Nähe der Frontlinie. (Foto: AFP)

Frieden in der Ostukraine? Dafür gibt es einige Hürden, sagt der Moskauer Ukraine-Experte Konstantin Skorkin.

Interview von Paul Katzenberger, Moskau

Im Ukraine-Konflikt treffen sich an diesem Montag in Paris der russische Präsident Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij erstmals persönlich. Die Zusammenkunft wird mit Spannung erwartet. Mehr als drei Jahre nach dem Ukraine-Gipfel im Oktober 2016 ist es dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gelungen, die wichtigen Akteure für einen neuen Versuch zusammenzubringen, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. An den Gesprächen im sogenannten Normandie-Format nehmen außer dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten noch Macron und Kanzlerin Angela Merkel teil. Der Ukraine-Spezialist Konstantin Skorkin vom Moskauer Büro der US-Denkfabrik Carnegie Fund erläutert, welche Hürden sich vor einem Friedensschluss aufbauen - und warum er diesen trotzdem nicht für ausgeschlossen hält.

SZ: Es ist gut drei Jahre her, dass im Rahmen eines Ukraine-Russland-Gipfels im Normandie-Format versucht wurde, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. Seither passierte nichts. Warum kommt das Treffen gerade jetzt?

Konstantin Skorkin: Durch die Wahl eines neuen Präsidenten in der Ukraine haben sich neue Perspektiven eröffnet. Hauptsächlich deswegen, weil Selenskij die Wahl vor allem wegen seines Versprechens gewonnen hat, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. Plötzlich kommen Kompromisse in Betracht, die bisher undenkbar waren.

Ist die neue Bewegung im Konflikt auch dadurch erklärbar, dass der französische Präsident Macron seinem russischen Pendant Putin zuletzt deutlich mehr Entgegenkommen gezeigt hat, als es die EU vorher getan hat?

Das spielt sicher auch eine Rolle. Putin will herausfinden, ob die EU-Front gegenüber Russland mit Macron noch so steht wie vorher. Wobei Macron ja nicht nur im Verhältnis zu Putin konziliant aufgetreten ist, sondern auch zu Selenskij. Unmittelbar nach dessen Wahl zum ukrainischen Präsidenten hat Macron sofort Kontakt zu ihm aufgenommen. Dadurch nimmt der französische Präsident einerseits die Position eines Mittelsmannes zwischen der Ukraine und Russland ein. Andererseits sorgt er aber auch dafür, dass Selenskij dem viel mächtigeren Putin nicht allein gegenübertreten muss, sondern die Unterstützung eines so großen Staatenverbundes wie der EU hat.

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Es hat osteuropäische Regierungen in den baltischen Staaten oder Polen ziemlich aufgescheucht, dass Macron deutlich mehr Nachsicht gegenüber Russland zeigt, als es der bisherigen EU-Linie entsprach. Könnte es an dem Punkt auf dem Gipfel auch zu Differenzen zwischen Merkel und Frankreichs Präsidenten kommen?

Das wird man sehen müssen. Zuletzt war Macron ja immer wieder für Überraschungen gut. Doch wie Frankreich sind prinzipiell auch Deutschland und die anderen EU-Staaten diesen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland im Herzen des Kontinents leid. Vor allem auch, weil die westeuropäische Industrie-Lobby Druck auf die Regierungen ausübt, die Sanktionen gegen Russland abzumildern. Schließlich sind die Strafmaßnahmen der EU schlecht für das Geschäft, das Konzerne wie der deutsche Automobilhersteller Daimler oder der französische Ölkonzern Total in großem Stil in Russland machen wollen. Natürlich steht die EU noch an der Seite der Ukraine, aber am liebsten wäre es ihr, wenn dieser Konflikt gelöst werden könnte.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die Gespräche zu einem Erfolg führen und der Krieg im Osten der Ukraine tatsächlich beendet wird?

Das ist schwer zu sagen. Es kann ein Szenario mit keinen Ergebnissen geben, weil die Positionen Russlands und der Ukraine einfach zu weit auseinanderliegen. Denn es besteht eine fundamentale Asymetrie zwischen Russland und der Ukraine, was die Zielvorstellungen angeht: Die Ukraine ist viel eher an einer Lösung des Konflikts interessiert als Russland, das möglicherweise überhaupt kein Problem damit hat, wenn der derzeitige Zustand mit den zwei abtrünnigen Republiken Lugansk und Donezk weiterhin so anhält.

Doch auch Russland will ja Geschäfte mit westlichen Konzernen machen. Das wird ja dann erschwert, wie Sie gerade gesagt haben.

Das ist zweifellos richtig. Aber es gibt eben auch verhandlungstaktische Erwägungen, deretwegen die Russen das in Kauf nehmen könnten: Der Politologe Aleksej Tschesnakow ( Direktor des "Center for current policy", das den Kreml berät; Anm. d. Red.) empfiehlt in einer Studie, den Status quo in der Ostukraine fürs Erste aufrechtzuerhalten. Er argumentiert, dass Selenskijs Verhandlungsposition im Augenblick sehr stark sei, weil er viel Zustimmung aus der Bevölkerung erhalte. Tschesnakow rät daher dazu, die Lösung des Problemes auf einen Zeitpunkt in der Zukunft zu verschieben, an dem die ukrainische Führung wieder schwächer dasteht.

Der Publizist Konstantin Skorkin stammt aus der abtrünnigen ukrainischen "Volksrepublik" Lugansk. Er äußert sich für das Moskauer Büro der US-Denkfabrik Carnegie Fund zu politischen Fragen, die die Ukraine betreffen. Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges in der Ostukraine bildet dieser einen Schwerpunkt seiner Analysen. (Foto: Konstantin Skorkin)

Aber es ist nicht klar, ob Putin Tschesnakows Ratschlag beherzigen wird?

Richtig. Denn Putin weiß auch, dass die russische Wirtschaft nicht schnell genug wächst, und dass ihr die westlichen Sanktionen schaden. Deswegen ist ein zweites Szenario denkbar, das tatsächlich die Befriedung des Konflikts zur Folge hätte. Käme es dazu, würden den Separatistengebieten nach der sogenannten "Steinmeier-Formel" weitreichende Autonomierechte zugestanden werden. Voraussetzung dafür wären Lokalwahlen in den abtrünnigen sogenannten "Volksrepubliken" Lugansk und Donezk, die von einer unabhängigen Wahlbeobachterkommission als frei und fair eingeschätzt werden müssten.

Aber stellt nicht genau diese "Steinmeier-Formel" einen großen Stolperstein für die Verhandlungen dar? Beide Seiten hatten sich ja schon 2015 auf die Formel verständigt, derzufolge die Ukraine ihren abtrünnigen Republiken große Autonomierechte zugestehen würde. Doch dann wollte sie die Ukraine plötzlich nicht mehr anerkennen. Und als Selenskij sie schließlich doch akzeptierte, geriet er innenpolitisch sehr stark unter Druck.

Es stimmt, dass Selenskij in der Rada ( dem ukrainischen Parlament; Anm. d. Red.) sehr viel Gegenwind von den oppositionellen Parteien bekommen hat, weil er die "Steinmeier-Formel" prinzipiell akzeptiert hat. Es wurde ihm die Kapitulation vor dem Aggressor Russland und die eigenmächtige Preisgabe ukrainischen Bodens vorgeworfen. Und natürlich hat die Opposition erheblichen Einfluss: Sie kann Tausende Demonstranten auf die Straße bringen und über die Medien Druck machen. Doch wie Umfragen zeigen, hat die Opposition mit dieser Haltung keine Mehrheit in der Bevölkerung. Die Menschen in der Ukraine sind mehrheitlich für den Frieden, und je mehr sich Selenskij für einen solchen einsetzt, desto stärker wächst im Augenblick seine politische Macht.

Eine zentrale Frage ist auch, bei wem die Kontrolle der Grenze zwischen den abtrünnigen "Volksrepubliken" und Russland während der Lokalwahlen liegt. Derzeit kontrollieren die Separatisten diese Grenze. Bliebe es so, wäre bei einem Wahlsieg der Separatisten die Gefahr groß, dass die Ukraine an diesen Abschnitten nie wieder die Herrschaft über ihre Außengrenze ausüben könnte. Dass Kiew das verhindern will, ist nachvollziehbar.

Das ist in der Tat ein prinzipielle Frage, an der die ganzen Verhandlungen scheitern können. Ich persönlich denke, dass die Aufstellung einer internationalen Friedenstruppe einen Ausweg darstellen könnte, um dieses Problem zu lösen. Allerdings wird auch das nicht einfach sein. Denn die Ukraine wird keine Soldaten in einer solchen Friedenstruppe akzeptieren, die von Russland und seinen Verbündeten entsandt werden. Und Russland wiederum wird keine ukrainischen oder Nato-Kämpfer in einer solchen Truppe sehen wollen. Ein Kompromiss könnte darin bestehen, dass die Truppe aus weißrussischen Militärkräften gebildet wird. Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko hat bereits seine Bereitschaft signalisiert, einem solchen Kompromiss zuzustimmen.

Neben all diesen Problemen gibt es aktuell noch einen weiteren Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Der bisher gültige Gasliefervertrag zwischen den zwei Ländern läuft aus, und ein neuer müsste bis zum 1. Januar 2020 unterzeichnet werden. Auch darauf können sich beide Seiten nicht verständigen. Erschwert das den Friedensschluss in der Ostukraine zusätzlich?

Der ausstehende Abschluss eines neuen Gasliefervertrages zwischen Russland und der Ukraine stellt in der Tat eine zusätzliche Komplikation dar. Denn hier geht es auch um Westeuropa, das russisches Gas braucht, das durch die Ukraine transportiert werden muss. Das heißt, von diesem Problem sind drei Seiten betroffen, die alle etwas in der Hand haben, die aber auch alle vom anderen etwas brauchen. Im Grunde geht es hier um ökonomische Interessen, und würde man sie ausschließlich als solche behandeln, dann käme es sicher zu einer Lösung. Doch da der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland eben auch politischer Natur ist, wird es komplizierter.

Wird Putin in Paris versuchen, die Gasfrage mit den Bemühungen um Frieden in der Ostukraine zu verknüpfen?

Ja, das wird er tun. Er könnte zum Beispiel bei der Gasfrage etwas nachgeben, um in der Ostukraine mehr für Russland rauszuholen. Meine Einschätzung ist, dass den Russen der Gipfel in Paris sehr gelegen kommt. Denn sie spekulieren darauf, auf einen Schlag eine Menge Probleme lösen zu können, und das zu Konditionen, die für sie sehr vorteilhaft sind.

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