Ost-Ukraine:Rente und Gerechtigkeit, solange der Vorrat reicht

People cross a bridge under restoration in Stanytsia Luhanska

Schlange stehen gehört zum Alltag: Menschen an einer zerstörten Brücke in Stanitsja Luganska.

(Foto: REUTERS)

Das Leben in den ukrainischen "Volksrepubliken" im Osten ist hart. Es gibt kaum Jobs. Viele sind enttäuscht von den Separatisten, aber auch von der ukrainischen Bürokratie.

Von Florian Hassel, Stanitsija Luganska

Die Fahrt zur Rente begann für Taissija Janbolenko um vier Uhr morgens. Da stand die pensionierte Grundschullehrerin in der Stadt Altschewsk im Osten der Ukraine auf, um das erste Sammeltaxi nach Lugansk zu nehmen, 40 Kilometer entfernt. In Lugansk stieg Janbolenko in den Bus, um weitere 20 Kilometer nach Stanitsija Luganska zu fahren. Dort ist der einzige Übergang von der "Volksrepublik Lugansk" (LNR) zu jenem Teil der Ukraine, der von Kiew kontrolliert wird.

Die separatistischen Gebiete um Lugansk und Donezk haben sich 2014 mithilfe Moskaus zu "Volksrepubliken" erklärt, sind aber von keinem Staat anerkannt. Staatsrechtlich gehören sie immer noch zur Ukraine. Und deshalb zahlt Kiew weiterhin Rente aus. Dazu aber müssen die Rentner persönlich in das von Kiew kontrollierte Gebiet fahren. Der Geldverkehr zwischen der Ukraine und den "Volksrepubliken" ist eingestellt. Die Rente gibt es am Geldautomaten, solange der Vorrat reicht.

Taissija Janbolenko hat als eine der Ersten die Fußgängerbrücke über den Fluss Sewernij Donezk überquert. Dort stellt sie sich vor einen Geldautomaten der staatlichen Sparkasse. Es ist herbstlich warm, ein Glück für Janbolenko und die etwa 30 anderen Rentner, denn sie muss warten. Der Geldautomat ist leer geräumt. Eine Stunde, zwei, drei, sie hofft, dass endlich ein Geldbote kommt und den Automaten auffüllt. Es ist bereits Mittag.

Janbolenkos Rente liegt bei 75 Euro. Sie sagt, wenn sie nichts aus dem Geldautomaten ziehen kann, "übernachte ich hier im Dorf bei Babuschka Lidija". Die alte Dame ist weit über 80. Taissija Janbolenko, 65, gräbt ihr ab und zu den Garten um und darf deshalb für weniger als einen Euro bei ihr übernachten. So gesehen hat Janbolenko noch Glück. Bei der Familie Ratschok aus Lugansk ist das anders. Irina Ratschok ist mit Mann Wiktor und der drei Jahre alten Waleria für einen Behördengang in Stanitsija Luganska. Aber für ihre 85 Jahre alte Großmutter Wera können sie nichts tun. "Babuschka Wera ist zu gebrechlich für den anstrengenden Weg, und seit neun Monaten bettlägerig", sagt Ratschok. "Sie bekommt seit über drei Jahren keine Rente."

Etwa 200 Kilometer von Stanitsija Luganska entfernt, Übergang Majorskoje. Zehn Rentner warten auch hier vor einem leeren Geldautomaten. Vier von ihnen erzählen, dass sie ihre Rente Monate oder gar Jahre nicht bekommen haben, auch weil ukrainische Beamte ihre Dokumente nicht anerkennen. "Anfang Juni 2018 hat ein Gericht in der Stadt Kramatorsk entschieden, die Rentenkasse müsse mir umgehend ausstehende Renten für 30 Monate auszahlen", sagt Aljona, eine Rentnerin. "Das Geld habe ich bis heute nicht." Das geht vielen so. Von 1,28 Millionen Rentnern, die zu Kriegsbeginn 2014 auf dem Gebiet der Separatisten registriert waren, bekommen nach Angaben der Vereinten Nationen nur 562 000 ihre Rente.

Ein weiteres Problem: Dokumente der DNR und LNR, die von Rebellen kontrolliert sind, werden nur in Russland anerkannt. Deshalb fahren aus den "Volksrepubliken" junge Eltern auf von Kiew kontrolliertes Gebiet, um Geburtsurkunden zu bekommen. Studenten wiederum wollen kein wertloses Examen der Donezker Universität. Dazu kommen Verwandtenbesuche oder Einkaufsfahrten. Die UN und die Menschenrechtsorganisation "Recht auf Schutz" zählen jeden Monat bis zu 1,3 Millionen Übergänge über die sogenannte Kontaktlinie. Das ist die Front zwischen dem ukrainischen Kerngebiet und den Separatistengebieten DNR und LNR. Die faktische Grenze ist 427 Kilometer lang, doch Zivilisten können sie nur an fünf Stellen überqueren. Stundenlang müssen sie warten, vor allem an Kontrollpunkten der Separatisten. In Stanitsija Luganska fielen den UN zufolge allein in den ersten drei heißen Julitagen 80 Menschen in Ohnmacht. Im Winter wird das Warten noch härter.

Treue zur Ukraine wird vielen Menschen aus der DNR und LNR nicht leicht gemacht. Irina und Wiktor Ratschok sind 2014 aus Lugansk geflüchtet. Doch in der Industriestadt Saporoschije verlor der Mann mehrmals seinen Job. "So geht es vielen aus Lugansk oder Donezk", sagt Irina Ratschok. "Wir werden eingestellt, damit die Chefs gegenüber Kiew behaupten können, dass sie etwas für die Flüchtlinge tun - und werden entlassen, sobald die Chefs uns ersetzen können." 2018 kehrten die Ratschoks nach Lugansk zurück.

"Doch wir wollen nicht nach Russland und auch keine russischen Pässe. Wir sind Ukrainer."

Seit Mai geben russische Behörden auf Befehl von Präsident Wladimir Putin zwar illegal Pässe an Bewohner der LNR und DNR aus, wenn diese zuvor einen Pass der "Volksrepubliken" beantragt haben. "Doch wir wollen nicht nach Russland und auch keine russischen Pässe", sagt Irina Ratschok. "Wir sind Ukrainer."

In Stanitsija Lugansk wollen die Ratschoks einen neuen Pass für Wiktor abholen. Doch einem Grenzbeamten fallen im alten Pass Stempel von einer Fahrt über die nicht von Kiew kontrollierte Grenze nach Russland auf. Die Strafe wegen "illegaler Aus- und Einreise": 130 Euro. Die Strafe ist ein herber Schlag für die Familie: Als Verkäufer verdient Wiktor Ratschok in Lugansk höchstens 280 Euro, in Flautemonaten die Hälfte.

Er ist froh, überhaupt Arbeit zu haben. Tausende Unternehmen und Geschäfte in den "Volksrepubliken" sind geschlossen. Es fehlen Kunden, erst recht seit 2017, seit der Kiewer Wirtschaftsblockade gegen die Separatistengebiete. Diese enteigneten ihrerseits Unternehmen, deren Eigentümer auf von Kiew kontrolliertem Gebiet leben. Doch auch Russen, die mit dem Abschwung im eigenen Land kämpfen, bestellen nur selten in LNR und DNR.

Seit Kriegsbeginn sind etwa 1,5 Millionen Einwohner aus den "Volksrepubliken" geflüchtet. Dort leben noch an die 2,5 Millionen Menschen. Die 34 Jahre alte Jewgenija Schorowa wohnt im Städtchen Jenakijewo, 35 Kilometer nordöstlich von Donezk. Viele Fabriken haben geschlossen, rund 20 ihrer Bekannten sind weggezogen: in andere Teile der Ukraine, nach Moskau, Polen, Deutschland.

Die Schorowas bleiben - noch. Jewgenija arbeitet in einer Chemiefabrik, die früher dem Oligarchen Rinat Achmetow gehörte. Die DNR hat ihn enteignet, nun stehe die Fabrik vor der Pleite, sagt Schorowa. Noch verdient sie etwa 300 Euro im Monat. Zum Leben reicht dies nicht, sagt sie, "denn viele Preise sind heute bei uns auf Moskauer Niveau". Schorowa fährt deshalb aus Jenakijewo über Majorskoje in das ukrainische Städtchen Bachmut, um für Kunden in Jenakijewo Kleidung und Lebensmittel zu kaufen. Ihr Tagesgewinn, wenn alles gutgeht: umgerechnet elf Euro.

Jewgenija Schorowa kümmert sich neben ihren zwei Jobs noch um Sohn und Mutter.

Schorowas Vater Sergej ist vor zwei Jahren gestorben, Tochter Jewgenija wohnt seitdem mit der Familie in der Wohnung des Vaters. Offiziell geerbt hat sie die Wohnung nicht. Denn die Behörden in Bachmut erkennen die Sterbeurkunde der DNR nicht an. "Sie handeln erst, wenn ihnen das ein Gericht befiehlt", sagt Jewgenij Fedorinow von der Hilfsorganisation Recht auf Schutz. "Theoretisch entscheiden beim Gericht hier in Bachmut 21 Richter - in Wirklichkeit sind nur drei Richterstellen besetzt. Deswegen dauern die Entscheidungen." Jewgenija Schorowa kümmert sich neben ihren zwei Jobs noch um Sohn und Mutter. "Bisher hatte ich nie Zeit für die ganzen Behördengänge."

Schorowas Mann Sergej verlor seinen Job, als seine Kohlegrube schloss. Jetzt verdient er mit Computerreparaturen dazu - und kann auch die Sperren umgehen, mit denen Russland in der DNR und LNR den Zugang zu ukrainischen Internetseiten und Fernsehsendern verhindert. Die Schorowas haben eine klare Meinung zu ihrer "Volksrepublik": "Wir leben unter einem Banditenregime." Und Dennis Puschilin, den Moskau als DNR-"Präsidenten" eingesetzt hat, sei "nichts als ein Verbrecher", sagt Schorowa offenherzig, weshalb die SZ die Namen der Familie geändert hat.

Viele, gerade ältere Einwohner, die sich ausschließlich über propagandareiche russische Fernsehsender informieren, unterstützen die "Volksrepubliken" - und einen möglichen Anschluss an Russland. "Ich würde gerne in Russland leben - so wie früher in der Sowjetunion", sagt eine Rentnerin vor dem leeren Geldautomaten in Stanitsija Luganska. In Majorskoje sagt eine Frau: "Die Ukrainer wollen uns die russische Sprache verbieten." Ihre Nachbarin befürchtet gar: "Wenn wir in die Ukraine zurückkehren, steht uns das Gleiche bevor wie früher den Polen - wir werden erschossen", sagt sie in Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg, als sich Ukrainer und Polen in der heutigen Westukraine bekämpften.

Zuverlässige Umfragen, wie viele Menschen in der DNR und der LNR Moskau unterstützen und wie viele Kiew, gibt es nicht. Ein Indiz dafür, dass die Unterstützung für Moskau und seine Marionettenregime enge Grenzen hat, ist die Passausgabe: Die "Volksrepubliken" geben schon seit 2015 eigene Pässe aus. Doch seitdem haben nur 15 Prozent der Einwohner einen beantragt: vor allem Moskau verbundene Regimemitarbeiter, Soldaten und ihre Familien. Dass die Führer der "Volksrepubliken" sich nicht sicher fühlen, zeigen auch die Prozesse gegen angebliche Spione: Dem Fachdienst Civic Monitoring zufolge wurden in den "Volksrepubliken" allein vom 13. bis 15. November vier Einwohner wegen angeblicher Spionage oder angeblichem Waffenschmuggel für die Ukraine verurteilt, zu langen Gefängnisstrafen.

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