Europäische Union:Die Ukraine warnt Europa vor "verheerenden Folgen"

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Präsident Selenskij (li.) will sein Land in die EU führen, Ungarns Regierungschef Orbán (re.) blockiert das. Am Sonntag sind sich die beiden in Buenos Aires begegnet. (Foto: Alejandro Pagni /AFP)

Wenige Tage vor ihrem Gipfel redet der ukrainische Außenminister Kuleba den EU-Staaten ins Gewissen. Sein Land drängt auf einen schnellen Beitritt zur EU und braucht Geld aus Brüssel. Doch ein Staat steht auf der Bremse.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Immerhin, sie sprechen miteinander, wenn auch nur kurz und nicht sonderlich freundlich. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij und Ungarns Regierungschef Viktor Orbán liefen sich am Sonntag anlässlich der Amtseinführung des argentinischen Präsidenten Javier Milei in Buenos Aires über den Weg. Es kam zu einem spontanen Meinungsaustausch, zwanzig Sekunden lang von einer Kamera zufällig aufgenommen, leider ohne Ton. Aber die Mienen der beiden lassen erahnen, dass die Frage aller Fragen ohne Antwort bleibt: Lässt Orbán, lässt Europa, lässt der Westen die Ukraine mitten im Krieg gegen Russland im Stich?

Am Donnerstag und Freitag dieser Woche treffen sich die 27 Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Im Mittelpunkt wird, wohl oder übel, Viktor Orbán stehen. Der Ungar hat angekündigt, die Eröffnung von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine ebenso zu blockieren wie Hilfsgelder in Höhe von 50 Milliarden Euro. Die Ukraine braucht die Milliarden dringend, andernfalls droht dem Land der Kollaps, zumal auch der US-Kongress gerade Hilfsgelder gesperrt hat. Das ist der Grund, warum Präsident Selenskij von Buenos Aires aus nach Washington weiterfliegen wollte, um dort gemeinsam mit Präsident Joe Biden für die ukrainische Sache zu werben.

Zweiter großer Streitpunkt: der Haushalt der EU

Sein Außenminister Dmytro Kuleba versuchte am Montag in Brüssel, den Europäern beim Treffen der EU-Außenminister ins Gewissen zu reden. Was Selenskij in Buenos Aires mit Orbán besprochen hat, wisse er nicht, sagte Kuleba. Er verwies auf die Stellungnahmen der beiden: Selenskijs Sprecher hatte erklärt, sein Chef habe gegenüber Orbán "freimütig" die Notlage der Ukraine angesprochen - Orbáns Sprecher wiederum hatte erklärt, sein Chef habe gegenüber Selenskij auf die laufenden Verhandlungen in Brüssel verwiesen.

Tatsächlich debattierten die Botschafter der 27 Regierungen am Sonntag viele Stunden lang ohne Ergebnis über die Aufstockung des EU-Haushalts bis 2027, den zweiten großen Streitpunkt vor dem Gipfel in dieser Woche. Die Blockade liegt nicht nur an Ungarn, sondern an einem Grundsatzkonflikt der EU-Staaten. Die deutsche Bundesregierung zählt zu jenen, die sich den Forderungen der EU-Kommission nach zusätzlichen 66 Milliarden widersetzen und Einsparungen fordern. Teil des "Mehrjährigen Finanzrahmens", der nun beschlossen werden muss, sind allerdings auch die 50 Milliarden für die Ukraine - und diese Hilfsgelder stellt nur Orbán infrage.

Möglicherweise kommt Bewegung in die Gespräche, wenn die Kommission wie erwartet im Laufe dieser Woche zehn Milliarden Euro an bislang gesperrten Zuschüssen für Ungarn freigibt. Insgesamt fast 30 Milliarden hält die EU zurück mit der Begründung, Ungarn verstoße gegen rechtsstaatliche Prinzipien der Europäischen Union und unternehme zu wenig gegen die weitverbreitete Korruption. Viktor Orbán hat allerdings bereits angekündigt, dass ihn auch die zehn Milliarden nicht umstimmen könnten. Er fordert eine Neuausrichtung der europäischen Ukraine-Politik.

"Seltsam" finde er das Verhalten Orbáns, sagte der ukrainische Außenminister Kuleba in Brüssel. Viele Jahre lang habe der Ungar an vorderster Front um eine Beitrittsperspektive für die Ukraine gekämpft, jetzt verweigere er sich im historischen Moment. Kuleba wollte nichts unversucht lassen, um die ungarische Regierung umzustimmen. Er suchte in Brüssel das persönliche Gespräch mit Ungarns Außenminister Péter Szijjártó und verwies auf ein Gesetz, das das ukrainische Parlament gerade verabschiedet hat: Es stärkt die Rechte von Minderheiten - und erfüllt damit laut Kuleba eine Forderung Orbáns für die ungarische Minderheit in der Ukraine.

Außenministerin Baerbock fehlte beim Treffen in Brüssel

Die Ukraine habe alle Forderungen der EU erfüllt, sagte Minister Kuleba. Alle vier Gesetze zur Korruptionsbekämpfung, die die Kommission zuletzt angemahnt habe, seien mittlerweile auf dem Weg. Die Ukraine brauche von Europa Geld, sie brauche Waffen, sie erwarte weitere Sanktionen gegen Russland. "Aber die Mutter aller Entscheidungen ist die Eröffnung von Beitrittsgesprächen." Nun müsse sich zeigen, ob Europa Wort hält. Wenn nicht, habe das "verheerende Folgen" für den ganzen Kontinent, warnte Kuleba.

Abgesehen von Ungarn mangelt es den Ukrainern nicht an Solidaritätsbekundungen aus ganz Europa. Am deutlichsten formulierte der lettische Außenminister Gabrielius Landsbergis, was beim Gipfel in dieser Woche auf dem Spiel steht. Europa müsse alles tun, damit die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt. "Wenn wir das nicht tun, werden wir einen unglaublich hohen Preis zahlen." Ungarn stehe offenbar "gegen alles, was Europa ausmacht".

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Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock fehlte bei dem Treffen in Brüssel, sie verhandelte bei der Weltklimakonferenz in Dubai. Unter Regie des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell sprach die Runde auch über den Krieg in Nahost. Neben Solidaritätsbekundungen für Israel ging es auch um die Frage, ob gegen israelische Siedler, die im Westjordanland Jagd auf Palästinenser machen, Einreiseverbote verhängt werden sollen. Josep Borrell soll nun dazu einen Vorschlag erarbeiten.

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