Ukraine:Neue Dimension des Krieges

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In der Nacht zu Dienstag wurde der Kachowka-Staudamm in der Region Cherson durch eine Explosion zerstört, die Zivilbevölkerung wird in Sicherheit gebracht. (Foto: Plant Labs/Reuters)

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staumdamms bezichtigen sich Moskau und Kiew gegenseitig, für die Explosion verantwortlich zu sein. Rund 60 Prozent der Infrastruktur in der Ukraine sind bereits beschädigt.

Von Nicolas Freund

Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Region Cherson ist eine weitere Eskalation im Krieg in der Ukraine. Ein offenbar am frühen Dienstagmorgen aufgenommenes Drohnenvideo zeigt Wassermassen, die durch den größtenteils zerstörten Damm strömen. Zum Vergleich: Der See enthält neunmal so viel Wasser wie der bayerische Chiemsee. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij teilte auf seinem Telegram-Kanal Videoaufnahmen von weggespülten Brücken und ganzen Häusern, die den Fluss Dnjepr hinabtreiben. Rettungskräfte bringen Menschen in Sicherheit, in deren Wohnungen knietief das Wasser steht. Straßen haben sich in Flüsse verwandelt, ganze Ortschaften sind überflutet.

Die Ukraine gibt an, die russische Armee habe den Staudamm gesprengt. Seit Beginn der Invasion vor mehr als einem Jahr steht das Gebiet südöstlich des Dammes unter russischer Besatzung. Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow widersprach und beschuldigte die Ukraine der "Sabotage". Es ist unklar, was genau zum Bruch des Damms in der Nacht auf Dienstag geführt hat. Die ukrainische Version der Ereignisse ist allerdings die plausiblere: Kiew hat keinen Vorteil von der Zerstörung des Damms und keinen Grund, die eigene Bevölkerung einer Überschwemmung auszusetzen. Moskau könnte mit der Flut aber versuchen, die in diesen Tag Fahrt aufnehmende ukrainische Gegenoffensive zu verlangsamen. An diesem Teil des Flusses Dnjepr wird die westliche Seite derzeit von ukrainischen Streitkräften gehalten, das östliche Ufer von der russischen Armee. Auf den Inseln im Delta kam es immer wieder zu Kämpfen, zuletzt sind ukrainische Einheiten mit Booten am Ostufer gelandet. Gut möglich, dass ein größerer Angriff mit der Überflutung verhindert oder zumindest erschwert werden sollte.

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Verschiedene internationale Organisationen versuchen, Menschen und auch Tieren im Überschwemmungsgebiet zu helfen. Die Kriegsparteien beschuldigen sich gegenseitig, die weltgrößte Ammoniak-Pipeline beschädigt zu haben.

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Ob ein solcher tatsächlich bevorstand, ist dabei völlig unklar. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die ukrainische Armee versucht hätte, Panzer und Hunderte Soldaten über den schon im Normalzustand bis zu einem Kilometer breiten Strom zu transportieren. Womöglich wollte die russische Armee aber kein Risiko eingehen. Das Institute for the Study of War in Washington D.C. hatte schon im Oktober vermutet, dass russische Truppen, möglicherweise um einen Rückzug zu decken, den Damm sprengen könnten. Ein Rückzug der russischen Besatzer ist derzeit nicht festzustellen, dafür ist die Zerstörung aber auch ein weiterer Schlag gegen die ukrainische Infrastruktur. Denn mit dem Damm wurde ebenfalls das angeschlossene Wasserkraftwerk zerstört.

International gibt es scharfe Kritik an der Sprengung des Dammes

Laut einem Bericht der Vereinten Nationen und der Weltbank vom Frühjahr ist die Energieproduktion der Ukraine durch die monatelangen russischen Angriffe auf die kritische Infrastruktur bereits um mehr als 60 Prozent reduziert. Auch das Gasnetz und die Wärmekraftwerke sind stark beschädigt und müssen vor dem nächsten Winter zumindest provisorisch wieder repariert werden. Alleine die unbedingt nötigen Reparaturen werden laut dem Bericht wahrscheinlich mehr als eine Milliarde US-Dollar kosten. Die Flutkatastrophe und ihre Zerstörungen erhöhen nun den Druck auf die ukrainische Zivilbevölkerung noch weiter. Selenskij verglich die Sprengung des Damms mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe. "Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten", sagte er.

Das Ausmaß der Überschwemmung ist dabei noch nicht abzuschätzen. Am Dienstagabend lagen noch keine Zahlen über Tote und Verletzte vor. Auch über die genauen Schäden war noch nichts bekannt. In dem Überschwemmungsgebiet liegen Dutzende Ortschaften an beiden Ufern des Dnjeprs, Zehntausende Menschen könnten betroffen sein. Zumindest das stromaufwärts gelegene Atomkraftwerk Saporischschja soll aber laut der Internationalen Atomenergiebehörde, die Beobachter bei dem AKW stationiert hat, durch den Dammbruch nicht gefährdet sein. Alle sechs Reaktoren sollen heruntergefahren und die Kühlwasserreservoirs gefüllt sein.

International wurde die Sprengung des Damms scharf kritisiert, auch in einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates, die noch am Dienstag einberufen wurde. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg schrieb auf Twitter: "Die heutige Zerstörung des Kachowka-Staudamms gefährdet Tausende Zivilisten und verursacht schwere Umweltschäden. Das ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität des russischen Krieges in der Ukraine zeigt." Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete die Zerstörung als "neue Dimension" des Krieges. "Das ist nach allem, was man annehmen kann, eine Aggression der russischen Seite", sagte Scholz dem Sender RTL. Außenministerin Annalena Baerbock teilte mit: "Für diese Umweltkatastrophe gibt es nur einen Verantwortlichen: Der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine". Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere wiesen außerdem darauf hin, dass die Zerstörung von Bauwerken wie Dämmen in einem Krieg verboten ist und als Kriegsverbrechen angesehen werden kann.

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