Was in Istanbul und Ankara geschieht, löst auch in Deutschland zunehmend Unruhe und Spannungen aus. Nach der Niederschlagung des Militärcoups gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan ließ die türkische Regierung Tausende verhaften, Zehntausende Soldaten, Richter, Lehrer und andere Staatsbedienstete verloren ihren Job. Dass dieses Klima des Zorns und der Angst nun auch auf Deutschland übergreift, ist wenig erstaunlich: Fast drei Millionen Menschen, die entweder selbst oder deren Eltern aus der Türkei stammen, leben hier. Die meisten von ihnen fühlen sich der Türkei eng verbunden.
Bis zu 30 000 von ihnen könnten am Sonntag nach Köln kommen. So viele Anhänger Erdoğans wollen nach Schätzung der Polizei am rechten Rheinufer Flagge zeigen, die rote Fahne der Türkei mit dem weißen Halbmond. Auch links des Rheins sind Kundgebungen angemeldet, deutlich kleiner und klar gegen die Verhaftungspolitik des türkischen Präsidenten nach dem gescheiterten Putschversuch gerichtet. Zur größten Gegendemonstration haben Jugendverbände von SPD, Grünen, Linken und FDP aufgerufen, Motto: "Erdowahn stoppen". Auch ein rechter Demonstrationszug gegen die geplante Pro-Erdoğan-Kundgebung darf stattfinden. Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat am Samstag eine entsprechende Beschwerde der Kölner Polizei zurückgewiesen. Weiterhin offen ist, ob ein Verbot der Pro-Erdoğan-Versammlung möglich ist - zumindest schloss Kölns Polizeipräsident Jürgen Mathies dies bislang nicht aus.
"Die Stimmung ist sehr, sehr aggressiv"
Behörden und Politiker reagierten nervös auf diese Lage. "Innenpolitische Spannungen aus der Türkei zu uns nach Deutschland zu tragen und Menschen mit anderen politischen Überzeugungen einzuschüchtern, von welcher Seite auch immer, das geht nicht", sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) der Süddeutschen Zeitung, "und das werden wir auch nicht zulassen."
Gründe für derlei Warnungen gibt es genug. In mehreren Bundesländern kam es in dieser Woche zu Attacken auf Schulen, Horte und andere Einrichtungen, die der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen nahestehen. Ihn beschuldigt die Regierung in Ankara, Drahtzieher des Putsches zu sein. In den sozialen Medien kursieren Drohungen und sogar Mordaufrufe gegen Gülen-Anhänger oder diejenigen, die man dafür hält. Dem Leiter einer Gülen-nahen Einrichtung in Köln wurde auf Facebook angedroht, man werde ihn "in unserer Spucke" ertränken, er sei "nirgendwo mehr sicher". Im Netz verbreiteten sich Boykottlisten mit Namen von Restaurants und Läden angeblicher Gülen-Anhänger. An Geschäftstüren und in Moscheen tauchten Zettel mit der Botschaft auf, Gülen-Leute müssten draußen bleiben. Per SMS verbreitet wurden Aufrufe, angebliche Mitglieder der Bewegung einer Hotline in Ankara zu melden.
"Die Stimmung ist sehr, sehr aggressiv", sagt Gökay Safuoğlu, Vorsitzender der eher sozialdemokratisch orientierten Türkischen Gemeinde in Deutschland. Gut war das Klima auch vor dem Putschversuch nicht. Das Aufflammen des Bürgerkriegs in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei und das autoritäre Vorgehen Erdoğans gegen Journalisten und Oppositionelle haben alte Konflikte unter Deutschlands Türkeistämmigen neu entfacht, zwischen türkischen und kurdischen Nationalisten, zwischen Anhängern eines säkularen und denen eines islamisch geprägten Staates. Nun entstehen neue Fronten zwischen den verfeindeten Frommen aus Erdoğans und Gülens islamischer Gefolgschaft, oft gehen sie quer durch Familien. Manchmal, so Safuoğlu, "reden sogar Onkel und Tanten, Eltern und Kinder nicht mehr miteinander".
Erdoğan gebe vielen Türkeistämmigen in Deutschland "das Gefühl des Stolzes"
Dazu kamen deutsch-türkische Reibereien. Das umstrittene "Schmähgedicht" des Satirikers Jan Böhmermann gegen Erdoğan und die Resolution des Bundestags zum Völkermord an den Armeniern lösten unter vielen Deutsch-Türken Empörung aus - und blanke Wut. Türkeistämmige Politiker, allen voran Grünen-Chef Cem Özdemir, wurden und werden mit Hassmails überschüttet. Sogar einstige Gegner Erdoğans wähnen sich nun im Kampf gegen Kritik von außen, die sie als maßloses Türkei-Bashing empfinden.
Erdoğan dagegen gebe vielen Türkeistämmigen in Deutschland "das Gefühl des Stolzes, Teil einer immer stärkeren Türkei zu sein", sagt der Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien, Hacı-Halil Uslucan. Gerade unter jenen Migranten und ihren Kindern, die sich hier nicht angenommen fühlen, ist dieses Gefühl verbreitet: Laut einer jüngst veröffentlichten Umfrage der Universität Münster fühlt sich jeder zweite Türkeistämmige hierzulande als Bürger zweiter Klasse. Erdoğan, der seit Jahren immer wieder vor seinen deutschen Anhängern auftritt, hat den Auslandstürken das Wahlrecht verschafft. In Deutschland profitiert er davon: 60 Prozent der hiesigen Wähler stimmten im November für seine AKP. Unter den Türken Deutschlands ist er populärer als daheim.