Nach nur sechs Wochen im Amt hat die britische Premierministerin Liz Truss ihren Rücktritt angekündigt. "Ich habe mit Seiner Majestät dem König gesprochen, um ihm mitzuteilen, dass ich als Vorsitzende der Konservativen Partei zurücktrete", sagte sie am Donnerstag bei einem kurzfristig anberaumten Auftritt vor 10 Downing Street. Truss will die Amtsgeschäfte noch so lange führen, bis eine Nachfolge gefunden ist. Laut Konservativer Partei soll dies bereits in der kommenden Woche der Fall sein.
Wer Truss nachfolgt, ist völlig offen. Im Gespräch ist der frühere Finanzminister Rishi Sunak, der im Sommer in einer Stichwahl um die Nachfolge von Ex-Premier Boris Johnson gegen Truss unterlegen war. Da Sunak aber in der Partei umstritten ist, werden auch Verteidigungsminister Ben Wallace und die für Parlamentsfragen zuständige Ministerin Penny Mordaunt als aussichtsreiche Kandidaten gehandelt. Der erst kürzlich ins Amt berufene Finanzminister Jeremy Hunt lehnte Medienberichten zufolge eine Kandidatur ab. Dagegen soll Truss' Amtsvorgänger Johnson laut Times eine Kandidatur "im internationalen Interesse" in Erwägung ziehen.
Organisiert wird die Wahl von Graham Brady, dem Vorsitzenden des 1922-Komitees der Tory-Fraktion im Unterhaus. "Wir sind uns sehr bewusst über die Notwendigkeit im Sinne des nationalen Interesses, dies sehr schnell und klar zu regeln", sagte Brady. Im Sommer hatte sich die Suche nach einem Nachfolger Johnsons wochenlang hingezogen.
Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei forderte eine sofortige Neuwahl. Das Chaos an der Spitze der Regierung sei nicht nur eine "Seifenoper der Tory-Partei", sondern bedeute großen wirtschaftlichen Schaden und einen enormen Imageverlust des ganzen Landes, sagte Starmer. Auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon sprach sich für Neuwahlen aus. Dies sei "ein demokratischer Imperativ", twitterte die Chefin der Schottischen Nationalpartei SNP. Die Tories hingegen fürchten nichts mehr als vorgezogene Neuwahlen, da sie laut Umfragen mit einer Niederlage gegen Labour rechnen müssten.
Truss war vor ihrem Rücktritt massiv unter Druck geraten. Mit ihren Steuersenkungsversprechen hatte sie ein Chaos an den Finanzmärkten ausgelöst. Sogar die Bank of England musste mehrfach eingreifen. Erst am vergangenen Freitag hatte Truss ihren Finanzminister Kwasi Kwarteng entlassen, ihm folgte der frühere Gesundheits- und Außenminister Jeremy Hunt. Dieser machte am Montag fast alle Maßnahmen ihrer erst am 23. September verkündeten Steuerpolitik wieder rückgängig. Hunt kündigte auch an, den eigentlich für zwei Jahre vorgesehenen Energiepreisdeckel auf sechs Monate zu beschränken.
Am Mittwoch trat schließlich Innenministerin Suella Braverman zurück und beschleunigte damit den Zerfall der Regierung. Als Grund für ihren Rücktritt nannte sie den Bruch von Geheimhaltungsregeln. Sie habe ein offizielles Dokument von ihrer persönlichen E-Mail-Adresse weitergeleitet. "Ich habe einen Fehler gemacht; ich übernehme die Verantwortung; ich trete zurück", schrieb Braverman in ihrem Rücktrittsbrief an Truss.
Man musste gar nicht erst zwischen den Zeilen lesen, um zu erkennen, dass Braverman diese Konsequenz auch von der Premierministerin erwartet. Bravermans Brief war nichts weniger als eine Abrechnung mit Truss. So schrieb sie etwa von "ernsthaften Bedenken", ob die Regierung noch in der Lage sei, die Versprechen an die Wählerschaft einzulösen.
Laut britischen Medien soll dies auch der wahre Grund für Bravermans Rücktritt gewesen sein. Die Daily Mail schrieb am Donnerstag von einem 90-minütigem Treffen, in dem sich Truss und Braverman am Mittwoch über die Einwanderungspolitik gestritten haben sollen. Von Truss weiß man, dass sie die Einwanderungsregeln lockern wollte, um das Wachstum anzukurbeln. Von Braverman weiß man, dass sie am liebsten gar keine Einwanderer mehr ins Land lassen würde. Für Truss bedeutete der Verlust ihrer Innenministerin vor allem eines: Mit Bravermans Abgang stieg die Gefahr, dass sich nun auch der rechte Parteiflügel gegen sie stellen könnte. Und so kam es dann offenbar auch. Im Laufe des Donnerstags sprachen Truss immer mehr Abgeordnete das Misstrauen aus.
Ein Grund dafür waren auch die tumultartigen Szenen am Mittwochabend im Unterhaus. Laut Medienberichten sollen Tory-Abgeordnete eingeschüchtert und bedrängt worden sein, bei einer Abstimmung im Parlament für die Regierung zu stimmen. Dabei ging es um einen von der Labour-Opposition eingebrachten Antrag, der den Weg zu einem Fracking-Verbot ebnen sollte. Die Regierung hatte die Abstimmung erst zur Vertrauensfrage deklariert, nahm das aber unmittelbar vor der Stimmabgabe zurück.
Die Finanzmärkte reagierten positiv auf die Nachricht von Truss' Rücktritt. Das britische Pfund gewann gegenüber dem US-Dollar wieder an Wert.