Der Regen, der Schlamm, die Ungewissheit. Narin Mohammad hält das nicht mehr aus. "Es ist besser, zu Hause zu sterben", sagt die Kurdin, eine schlanke junge Frau mit drei kleinen Kindern am Rockzipfel und ein paar Decken als Gepäck. Sie wartet am stark gesicherten türkisch-syrischen Grenzübergang von Mürşitpınar darauf, dass sich der Zaun öffnet. Die ersten Häuser von Ain al-Arab, das die Kurden Kobane nennen, liegen nur 200 Meter hinter dem Stacheldraht. Von dort war die Kurdin drei Tage zuvor geflohen - in Panik vor den Extremisten des "Islamischen Staats" (IS). Nun will sie zurück: "Ich habe keine Angst, es gibt nichts weiter als den Tod."
Auf einmal zieht ein türkischer Soldat ein Gitter zur Seite. Die Mutter packt ihr Bündel und drängt mit ein paar Hundert Menschen durch das Loch. "Yavaş", langsam, sagt ein Soldat, fast höflich. Minuten später ist das Loch so plötzlich, wie es sich geöffnet hat, wieder zu, gesichert durch Wasserwerfer und Polizeikordon.
Die Kurden haben nur leichte Waffen, der IS schweres Gerät - ein ungleicher Kampf
Noch immer flüchten die Menschen vor dem IS, der 60 Dörfer um Kobane erobert hat, in die Türkei - während viele Vertriebene schon so verzweifelt sind, dass sie lieber wieder in die Stadt inmitten des Kampfgebiets zurückkehren, als länger auszuharren in Parks, Moscheen oder unter Zeltplanen, über denen die sengende Sonne steht. Private wie staatliche Helfer wirken trotz großen Einsatzes überfordert.
Auch Profiteure des Elends tauchen schon auf. Händler haben es auf das Vieh der Syrer abgesehen. "Die geben uns nur den halben Preis", sagt Adnan Hussin, ein 21-Jähriger in zerschlissenen Jeans und mit einem modischen Silberohrring. Er schläft nun mit 100 Menschen unter einem Zeltdach. Das haben Bauern in dem 80-Familien-Dorf Karaca (Kurdisch: Siwede) für die Gestrandeten auf ein abgeerntetes Weizenfeld gestellt. Die Frauen kochen auf offenem Feuer im Freien. Dazwischen sind Kühe und Schafe angepflockt. Die haben die Flüchtlinge durch Löcher im Grenzzaun geschoben oder darüber gehoben.
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Familien im Elend: 140 000 Menschen sind in der vergangenen Woche ins türkische Grenzgebiet geflüchtet.
Bild: Murad Sezer/Reuters -
Die syrischen Kurden verlassen ihre Heimat, in Panik. Sie fliehen vor den heranrückenden IS-Kämpfern, die wegen ihrer Brutalität gefürchtet sind.
Bild: Sedat Suna/dpa -
Die Nerven liegen blank an der Grenze: Bei Şanliurfa protestieren Kurden gegen den IS. Die türkische Polizei setzt Tränengas ein, um sie zu zerstreuen.
Bild: Sedat Suna/dpa -
Bei der Stadt Suruç reißen fliehende syrische Kurden den Grenzzaun nieder, unterstützt von Kurden aus der Türkei.
Bild: Burhan Ozbilici/AP -
Doch viele Vertriebene sind schon so verzweifelt, dass sie lieber zurückkehren wollen. In ihre Heimat, wo ihnen der Tod droht.
Bild: Bulent Kilic/AFP
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Das alte Gleis der Bagdad-Bahn markiert die Grenze
In Siwede, knapp zehn Kilometer von Kobane entfernt, ist der Lärm von Artillerie und Maschinengewehrfeuer zu hören. Von einem Hügel aus sieht man Rauchsäulen über syrischem Gebiet. Dörfler ducken sich unter jungen Olivenbäumen und beobachten die Front. Drüben in Syrien, bei Zorava, liegt ein altes französisches Fort, in dem der syrische Staatssender untergebracht war, davor ein Hügel.
Von hier aus hat die YPG, die kurdische Volksmiliz, tagelang den Vormarsch auf Kobane aufgehalten. Am Freitag soll der IS den Hügel eingenommen haben. Die syrischen Kurden richten daraufhin einen dramatischen Beistandsappell "an die Nato, die EU und alle internationalen Institutionen, ein mögliches Massaker in Kobane zu verhindern". Die Kurden haben nur leichte Waffen, der IS dagegen schweres Gerät. Ein ungleicher Kampf.
Die Grenze bei Zorava kann man so gut sehen, weil das alte Gleis der Bagdad-Bahn sie markiert. Auf dem Gleis steht ein LKW. Den haben türkische Kurden dort quergestellt, um zu verhindern, dass der IS Nachschub erhält - aus der Türkei, wie sie sagen. Die Luft im Grenzgebiet ist nach mehreren Sandstürmen nicht nur voll Staub, sondern auch mit Gerüchten aufgeladen. Ein Mann, der sich in Siwede als Polizeioffizier der kurdischen Kantonsverwaltung von Kobane vorstellt, will "mit eigenen Augen" gesehen haben, wie aus einem Zug "schwere Kisten" entladen wurde. Seinen Namen sagt der Mann nicht.