Syrien:Der Konflikt erreicht eine neue Dimension

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Rauchschwaden steigen nach einem Luftangriff über der syrischen Stadt Sarakeb in der Provinz Idlib auf. (Foto: Umit Bektas/Reuters)
  • Bei einem Luftangriff in der syrischen provinz Idlib sind mindestens 33 türkische Soldaten getötet worden.
  • Bomben hatten einen türkischen Militärkonvoi getroffen. Unklar ist, ob sie von russischen oder syrischen Kampfjets abgeworfen wurden.
  • Ankara fordert nun auch die Solidarität seiner Verbündeten in der Nato ein. In Berlin sieht man Kremlchef Wladimir Putin in der Pflicht.

Von Daniel Brössler, Berlin, Matthias Kolb, Brüssel, und Paul-Anton Krüger

Erst berieten sie noch in der Nacht zum Freitag sechs Stunden mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, dann flogen Verteidigungsminister Hulusi Akar und die führenden Generäle an die Grenze zu Syrien. Es war das Zeichen, dass die Türkei mit massiven Vergeltungsangriffen auf Truppen des Diktators Baschar al-Assad reagieren würden. In der Nacht zum Freitag waren bei einem Luftangriff in der syrischen Provinz Idlib mindestens 33 türkische Soldaten getötet worden. Unklar ist, ob russische oder syrische Kampfjets die Bomben abgeworfen haben, die einen türkischen Militärkonvoi trafen. Während die türkische Armee nach eigenen Angaben mehr als 200 Ziele in Syrien attackierte, rief Erdoğan den russischen Präsidenten Wladimir Putin an - ein Versuch, einen offenen Konflikt mit Moskau abzuwenden. Anfang März soll es ein Treffen geben.

Die Spannungen zwischen den beiden Ländern verschärfen sich seit Monaten. Im Dezember hatte das Assad-Regime mit massiver Unterstützung durch Angriffe der russischen Luftwaffe eine Großoffensive auf die letzte Rebellenhochburg begonnen, in der militärisch die auch von den USA und den UN als terroristisch eingestufte Dschihadisten-Miliz Hayat Tahrir al-Scham die stärkste Kraft ist und Ankara islamistische Gruppen unterstützt. In dem Gebiet leben etwa drei Millionen Zivilisten, von denen ein Drittel vom Bombardement der Regierungstruppen und der russischen Luftwaffe in die Flucht getrieben worden sind. Von der größten Vertreibung im neunjährigen Bürgerkrieg sprechen die Vereinten Nationen.

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Seit Wochen hat die Türkei Tausende Soldaten und Hunderte Panzer, Geschütze und andere schwere Waffen über die Grenze nach Syrien verlegt. Erdoğan hat mit einer Gegenoffensive gedroht, sollten sich Assads Truppen nicht bis Ende Februar hinter die Linien zurückziehen, die er im September 2018 mit Putin neben einer Waffenruhe als Grenzen einer Deeskalationszone und einer demilitarisierten Pufferzone ausgehandelt hatte. Diese Gegenoffensive, so steht zu vermuten, läuft nun. Mehr als 300 syrische Soldaten sollen nach türkischen Angaben getötet worden sein. Ankara fordert nun auch die Solidarität seiner Verbündeten in der Nato ein.

In Berlin sieht man nun Kremlchef Wladimir Putin in der Pflicht

In Brüssel beriet auf Verlangen Ankaras am Freitag nach Artikel 4 der Washingtoner Verträge der Nordatlantikrat, das wichtigste Entscheidungsgremium der Verteidigungsallianz, der die Türkei seit 1952 angehört. Danach kann jeder Bündnispartner um Beratungen bitten, wenn er "die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien" bedroht sieht. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach der Türkei im Namen der Allianz die "volle Solidarität" und das "tiefste Mitgefühl" für die 33 getöteten Soldaten aus.

Der Vertreter der Türkei habe in der Nato-Sitzung über die Lage in Syrien informiert, berichtete Stoltenberg, und verurteilte im Namen des Verteidigungsbündnisses die "rücksichtslosen Luftschläge" durch "Russland und das syrische Regime". Deeskalation sei dringend geboten.

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Stoltenberg und rief dazu auf, zur Waffenruhe von 2018 zurückzukehren. Der Generalsekretär, der stets für alle 29 Mitglieder spricht, betonte, die Nato werde die Türkei weiter unterstützen, etwa durch Awacs-Aufklärungsflüge und die Stärkung der türkischen Luftabwehr. So stellt Spanien Patriot-Luftabwehrraketen bereit, um die Bedrohung von Raketenangriffen aus Syrien zu mindern. Die Verbündeten würden weitere Maßnahmen prüfen, sagt Stoltenberg, ohne weitere Details zu nennen. Zur Frage eines möglichen Bündnisfalls äußerte er sich nicht. In Artikel 5 haben sich die Nato-Staaten zugesichert, einen Angriff auf einen der Partner als Angriff auf alle zu werten und Beistand zu leisten. Es gilt aber derzeit als unwahrscheinlich, dass die Türkei den Artikel 5 auslöst. Auch wäre eine Zustimmung der Alliierten fraglich; mit Erdoğan gibt es erhebliche Spannungen in der Allianz. Auch besteht kein Automatismus für militärische Unterstützung. Jedes Land kann selbst entscheiden, welche Maßnahmen es "für erforderlich" hält.

In Berlin sieht man Kremlchef Wladimir Putin in der Pflicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der türkische Präsident Erdoğan hätten ihre Bereitschaft zu einem Treffen im Vierer-Format deutlich gemacht, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. "Es ist jetzt an Russland, auf dieses Gesprächsangebot einzugehen. Das ist bisher nicht erfolgt", betonte er. "Das Angebot besteht fort. Die Ereignisse der letzten 24 Stunden machen noch einmal klar, wie dringlich es wäre", sagte Seibert. Die Bundesregierung sehe die Eskalation "mit sehr großer Sorge" und verurteile den Angriff auf türkische Stellungen.

Bundesaußenminister Heiko Maas hatte bereits am Donnerstag in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats in New York scharfe Vorwürfe an das syrische Regime und Russland gerichtet. Die Konfliktparteien stünden in der Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen. Stattdessen bombardierten sie zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen. "Willkürliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind Kriegsverbrechen", sagte Maas. Der Vizechef der Unionsfraktion im Bundestag, Johann Wadephul, machte Putin persönlich für die Eskalation verantwortlich. "Die Verantwortung für diese Entwicklung liegt bei Moskau. Putin erweist sich als Machtpolitiker, dem das Schicksal der Menschen egal ist", sagte er. Moskau scheine dabei einen "größeren Plan" zu verfolgen und den Zusammenhalt zwischen der Nato und dem Mitgliedstaat Türkei austesten zu wollen. Außerdem instrumentalisiere Moskau "bewusst die Flüchtlingsströme für seine Machtinteressen". Der Kreml wolle Europa erneut über den Hebel von Fluchtbewegungen unter Druck setzen - "wenn nicht sogar die EU und speziell Deutschland destabilisieren".

Über die von der Türkei angedrohte Öffnung von Flüchtlingsrouten nach Europa lägen keine offiziellen Angaben aus Ankara vor, betonte die Bundesregierung. Das Flüchtlingsabkommen sei nach wie vor sowohl für Europa als auch für die Türkei von Wert, erklärte Seibert. Man sei sich bewusst, welche Last die Türkei schultere, betonte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Die humanitäre Verantwortung für Idlib sei "eine der internationalen Gemeinschaft und nicht alleine der Türkei".

Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis zeigt Härte angesichts der Drohungen der Türkei. "Kein illegaler Grenzübertritt wird geduldet", sagte er.

USA wollen der Türkei Rückendeckung geben

Die USA betonten bei einer Dringlichkeitssitzung im UN-Sicherheitsrat in New York am Freitag, dass sie der Türkei Rückendeckung für weitere militärische Angriffe gegeben. "Die Türkei hat unsere volle Unterstützung, um in Selbstverteidigung auf ungerechtfertigte Angriffe auf türkische Beobachtungsposten zu reagieren, die zum Tod ihrer eigenen Streitkräfte geführt haben", sagte die amerikanische UN-Botschafterin Kelly Craft.

Auch US-Außenminister Mike Pompeo teilte mit, die USA stünden nach dem "verachtenswerten" Angriff an der Seite des Nato-Bündnispartners Türkei. Die USA würden eine Wiedereingliederung der Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad in die Internationale Gemeinschaft blockieren, bis diese sich an die UN-Sicherheitsratsresolution 2254 halte - "einschließlich eines landesweiten Waffenstillstands, der Idlib umfasst".

© SZ vom 29.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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