Hilde Schramm, Jahrgang 1935, ist habilitierte Erziehungswissenschaftlerin, Soziologin und saß für die Grünen zur Wendezeit im Berliner Abgeordnetenhaus. Seit Jahrzehnten setzt sich Schramm für Opfer des Nationalsozialismus ein, unter anderem engagiert sie sich im Verein Kontakte/Kontakty, der bislang hunderten ehemaligen NS-Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen geholfen hat.
Hilde Schramm
(Foto: Thorsten Wulf)Ihr Engagement hat auch mit ihrem Vater zu tun: Albert Speer (1905-1981), der Lieblingsarchitekt Adolf Hitlers, sollte für den Diktator Berlin zur Welthauptstadt Germania umbauen und war ab 1942 als Rüstungsminister für den Tod unzähliger Sklavenarbeiter verantwortlich. Speer wurde nach dem Krieg zu 20 Jahren Haft verurteilt. Während er in Berlin-Spandau einsaß, lernte seine Tochter Hilde die Lehrerin Dora Lux (1882-1959) kennen. 1953 bis zum Abitur 1955 unterrichtete diese die Speer-Tochter im Fach Geschichte an der Elisabeth-von-Thadden-Schule in Heidelberg.
Nun legt Schramm eine Biographie ihrer Lehrerin vor (bei Rowohlt erschienen; ISBN-13: 978-3498064211). Es ist das Lebensbild einer außergewöhnlichen Frau. Wie sehr sie Schramm prägte, ist der Autorin während des Interviews anzumerken. Ob sie ihrem Vater ins Gefägnis schrieb, dass sie eine jüdische Geschichtslehrerin habe? Eher nicht, glaubt sie - und manchmal kommen ihr die Tränen, während sie erzählt.
Süddeutsche.de: Frau Schramm, Sie haben ein Buch über Ihre Lehrerin Dora Lux geschrieben. Was macht diese Frau so bemerkenswert?
Hilde Schramm: Mich hat als Schülerin ihre Art beeindruckt: Sie war klug und immer sachlich, sie brüllte nicht, stellte nicht bloß. Ihr Verhalten war im besten Sinne demokratisch - und das in den fünfziger Jahren, wo noch ein anderer, ein autoritärer Ton herrschte.
SZ: Dora Lux war Jüdin, Sie die Tochter eines NS-Verbrechers. Wie sind Sie miteinander umgegangen?
Schramm: Das Verhältnis war gut, aber unsere Herkunft haben wir nicht thematisiert. Anfang der fünfziger Jahre redete man einfach nicht offen über das, was vor 1945 war.
SZ: Aber jede wusste vom Hintergrund der anderen?
Schramm: Das schon. Doch sie hat mich nie auf meinen Vater angesprochen. Umgekehrt erzählte sie zwar von sich, aber nicht von ihren jüdischen Wurzeln. Allerdings erwähnte sie einmal, dass sie unter den Nationalsozialisten ihre Arbeit verloren hat. Daraus schloss ich, dass sie Jüdin ist.
SZ: Sie standen, als sie Frau Lux kennenlernten, kurz vor dem Abitur und wussten, was Ihr Vater getan hat.
Schramm: Sie war der erste jüdische Mensch, den ich bewusst kennengelernt habe. Das hat mich bewegt und regte mich zum Denken an.
SZ: Damals war die Erinnerung der Deutschen an zwei verlorene Weltkriege noch frisch, die NS-Diktatur und ihre Jahrhundertverbrechen lagen nur ein paar Jahre zurück. Wie vermittelte da eine Frau mit jüdischem Hintergrund jüngere Geschichte?
Schramm: Sachlich und klug. Sie verfolgte Problemlinien über die Jahrhunderte hinweg. So lernte ich, bei Ereignissen nach ihrem historischen Kontext zu fragen. Bei zwischenstaatlichen und innergesellschaftlichen Konflikten brachte sie die Argumente beider Seiten ein. Daraus lernte ich, einfachen Lösungen zu misstrauen. Und sie erwähnte immer wieder Dinge aus ihrer eigenen Vita.
SZ: Aber nicht aus der NS-Zeit, oder?
Schramm: Nein, sondern davor. So zum Beispiel, dass ihr Mann als Sozialist unter dem Reichskanzler Otto von Bismarck im Gefängnis war.
SZ: Das ist tatsächlich ziemlich lange her. Kaiser Wilhelm II. drängte Bismarck 1890 zum Rücktritt.
Schramm: Genau das faszinierte mich: wie weit ihre Fäden in die Vergangenheit zurückreichten. Später dachte ich: Das kann nicht stimmen, diese "Geschichte" muss ich mir anlässlich der Behandlung der Sozialistengesetze und einer zufällig zeitgleichen Erwähnung ihres Mannes zusammengereimt haben. Inzwischen weiß ich: Heinrich Lux, geboren 1863, mithin fast zwanzig Jahre älter als sie, war 1887 Hauptangeklagter im sogenannten Breslauer Sozialistenprozess und saß fast zwei Jahre im Gefängnis.
SZ: Dora Lux, geborene Bieber, war eine progressive, emanzipierte Frau - und eine der ersten Akademikerinnen Deutschlands.
Schramm: Vor 110 Jahren, an Ostern 1901, legte sie gemeinsam mit ihrer Schwester das Abitur ab - die beiden zählen zu den ersten 50 Frauen, die die allgemeine Hochschulreife in Deutschland erlangten.
SZ: Durfte sie als Frau danach studieren?
Schramm: So einfach ging das nicht. An der Berliner Universität war sie nur als Gasthörerin geduldet. Sie wechselte deshalb bald nach Heidelberg und dann nach München, dort waren Frauen seit kurzem zur Immatrikulation zugelassen. 1906 promovierte sie in München in Altphilologie.