Süddeutsche Zeitung

Speer-Tochter Schramm über ihre jüdische Lehrerin:"Man hätte sie erwischt - wenn die Ämter wie heute vernetzt gewesen wären"

Hilde Schramm, Tochter von Hitlers Rüstungsminister Albert Speer, wurde nach dem Krieg von der Jüdin Dora Lux unterrichtet. Nun legt Schramm die Biographie ihrer Lehrerin vor: Ein Gespräch über eine Bildungspionierin, die als eine der ersten Frauen Deutschlands Abitur machte, studierte, promovierte - und sich durch einen riskanten Akt der Selbstachtung vor den Nazis schützte.

Oliver Das Gupta

Hilde Schramm, Jahrgang 1935, ist habilitierte Erziehungswissenschaftlerin, Soziologin und saß für die Grünen zur Wendezeit im Berliner Abgeordnetenhaus. Seit Jahrzehnten setzt sich Schramm für Opfer des Nationalsozialismus ein, unter anderem engagiert sie sich im Verein Kontakte/Kontakty, der bislang hunderten ehemaligen NS-Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen geholfen hat.

Ihr Engagement hat auch mit ihrem Vater zu tun: Albert Speer (1905-1981), der Lieblingsarchitekt Adolf Hitlers, sollte für den Diktator Berlin zur Welthauptstadt Germania umbauen und war ab 1942 als Rüstungsminister für den Tod unzähliger Sklavenarbeiter verantwortlich. Speer wurde nach dem Krieg zu 20 Jahren Haft verurteilt. Während er in Berlin-Spandau einsaß, lernte seine Tochter Hilde die Lehrerin Dora Lux (1882-1959) kennen. 1953 bis zum Abitur 1955 unterrichtete diese die Speer-Tochter im Fach Geschichte an der Elisabeth-von-Thadden-Schule in Heidelberg.

Nun legt Schramm eine Biographie ihrer Lehrerin vor (bei Rowohlt erschienen; ISBN-13: 978-3498064211). Es ist das Lebensbild einer außergewöhnlichen Frau. Wie sehr sie Schramm prägte, ist der Autorin während des Interviews anzumerken. Ob sie ihrem Vater ins Gefägnis schrieb, dass sie eine jüdische Geschichtslehrerin habe? Eher nicht, glaubt sie - und manchmal kommen ihr die Tränen, während sie erzählt.

Süddeutsche.de: Frau Schramm, Sie haben ein Buch über Ihre Lehrerin Dora Lux geschrieben. Was macht diese Frau so bemerkenswert?

Hilde Schramm: Mich hat als Schülerin ihre Art beeindruckt: Sie war klug und immer sachlich, sie brüllte nicht, stellte nicht bloß. Ihr Verhalten war im besten Sinne demokratisch - und das in den fünfziger Jahren, wo noch ein anderer, ein autoritärer Ton herrschte.

SZ: Dora Lux war Jüdin, Sie die Tochter eines NS-Verbrechers. Wie sind Sie miteinander umgegangen?

Schramm: Das Verhältnis war gut, aber unsere Herkunft haben wir nicht thematisiert. Anfang der fünfziger Jahre redete man einfach nicht offen über das, was vor 1945 war.

SZ: Aber jede wusste vom Hintergrund der anderen?

Schramm: Das schon. Doch sie hat mich nie auf meinen Vater angesprochen. Umgekehrt erzählte sie zwar von sich, aber nicht von ihren jüdischen Wurzeln. Allerdings erwähnte sie einmal, dass sie unter den Nationalsozialisten ihre Arbeit verloren hat. Daraus schloss ich, dass sie Jüdin ist.

SZ: Sie standen, als sie Frau Lux kennenlernten, kurz vor dem Abitur und wussten, was Ihr Vater getan hat.

Schramm: Sie war der erste jüdische Mensch, den ich bewusst kennengelernt habe. Das hat mich bewegt und regte mich zum Denken an.

SZ: Damals war die Erinnerung der Deutschen an zwei verlorene Weltkriege noch frisch, die NS-Diktatur und ihre Jahrhundertverbrechen lagen nur ein paar Jahre zurück. Wie vermittelte da eine Frau mit jüdischem Hintergrund jüngere Geschichte?

Schramm: Sachlich und klug. Sie verfolgte Problemlinien über die Jahrhunderte hinweg. So lernte ich, bei Ereignissen nach ihrem historischen Kontext zu fragen. Bei zwischenstaatlichen und innergesellschaftlichen Konflikten brachte sie die Argumente beider Seiten ein. Daraus lernte ich, einfachen Lösungen zu misstrauen. Und sie erwähnte immer wieder Dinge aus ihrer eigenen Vita.

SZ: Aber nicht aus der NS-Zeit, oder?

Schramm: Nein, sondern davor. So zum Beispiel, dass ihr Mann als Sozialist unter dem Reichskanzler Otto von Bismarck im Gefängnis war.

SZ: Das ist tatsächlich ziemlich lange her. Kaiser Wilhelm II. drängte Bismarck 1890 zum Rücktritt.

Schramm: Genau das faszinierte mich: wie weit ihre Fäden in die Vergangenheit zurückreichten. Später dachte ich: Das kann nicht stimmen, diese "Geschichte" muss ich mir anlässlich der Behandlung der Sozialistengesetze und einer zufällig zeitgleichen Erwähnung ihres Mannes zusammengereimt haben. Inzwischen weiß ich: Heinrich Lux, geboren 1863, mithin fast zwanzig Jahre älter als sie, war 1887 Hauptangeklagter im sogenannten Breslauer Sozialistenprozess und saß fast zwei Jahre im Gefängnis.

SZ: Dora Lux, geborene Bieber, war eine progressive, emanzipierte Frau - und eine der ersten Akademikerinnen Deutschlands.

Schramm: Vor 110 Jahren, an Ostern 1901, legte sie gemeinsam mit ihrer Schwester das Abitur ab - die beiden zählen zu den ersten 50 Frauen, die die allgemeine Hochschulreife in Deutschland erlangten.

SZ: Durfte sie als Frau danach studieren?

Schramm: So einfach ging das nicht. An der Berliner Universität war sie nur als Gasthörerin geduldet. Sie wechselte deshalb bald nach Heidelberg und dann nach München, dort waren Frauen seit kurzem zur Immatrikulation zugelassen. 1906 promovierte sie in München in Altphilologie.

SZ: Damals herrschte in Berlin noch ein Kaiser, in München der Prinzregent, auch in gehobenen Familien wurden die Töchter nur auf die Rolle der Ehefrau und Mutter vorbereitet. Wie war es möglich, dass ausgerechnet Dora Lux eine wissenschaftliche Ausbildung machen konnte?

Schramm: Das lag an ihrer übrigens nicht gerade reichen Familie und vor allem an ihrem Vater Georg Bieber. Der war Autodidakt, bot Sprachkurse an und hatte auch Kontakt zu Frauenrechtlerinnen. Früh förderte er seine Töchter und ließ ihnen Freiheiten, die damals sehr unüblich waren. Dora Lux wurde eine der allerersten Studienrätinnen, ihre Schwester Ärztin. Beide waren voll berufstätig, trotz Ehemann und zwei Kindern.

SZ: War die Familie Bieber religiös?

Schramm: Nein, das wohl nicht. Aber der familiäre Zusammenhalt in der Familie war groß. Georg Bieber hatte sich und seine Familie, also auch seine Tochter Dora, übrigens taufen lassen, um eine Beamtenstelle im preußischen Staatsdienst zu erhalten. Aber das habe ich erst durch meine Nachforschungen herausbekommen. Damals, als Schülerin, hätte ich Frau Lux gerne so vieles gefragt, aber es war eben undenkbar.

SZ: Wie hat sie das NS-Regime überlebt?

Schramm: Ihr Verhalten fällt aus dem Rahmen des bisher Bekannten: Sie verlor zwar ihre Stelle nach der Machtergreifung Hitlers 1933, aber wurde später nicht belangt, selbst als im Krieg die Deportationen begannen. Das lag wohl daran, dass weder Dora Lux noch ihr Bruder der gesetzlichen Anweisung nachgekommen waren, sich bei der polizeilichen Meldebehörde als Juden registrieren zu lassen. Sie unterliefen den Zwang, sich eine mit J gestempelte Kennkarte ausstellen zu lassen und führten den Zwangsvornamen Sara, bzw. Israel nicht. Das verlangte Verhalten widersprach offensichtlich ihrer Selbstachtung und ihrem Verständnis von Würde. Sie wollte sich nicht auf ihre jüdische Herkunft reduzieren lassen.

SZ: Und dieser Akt des zivilen Ungehorsams funktionierte einfach so?

Schramm: Es war wohl auch Glück dabei. Ihre Entscheidung war sehr riskant. Aber Dora Lux konnte durch die Maschen schlüpfen, weil offensichtlich bei den entscheidenden Stellen keine Unterlagen über ihre jüdische Herkunft vorlagen. Sie lebte einfach ihr Leben weiter. Mit Sicherheit wäre sie erwischt worden, wenn die Behörden schon so gut vernetzt gewesen wären wie heute. Dann hätte sie wohl kaum überlebt. Ihre Freunde und Bekannten wussten um ihre jüdische Herkunft, aber glaubten offensichtlich, sie sei durch eine "privilegierte Mischehe" geschützt, wie die Nazis Verbindungen zwischen "Ariern" und "Nichtariern" nannten.

SZ: Betätigte sich Lux im Widerstand?

Schramm: Nur indirekt, als Autorin der Zeitschrift Ethische Kultur in den Anfangsjahren der Diktatur. In mehr als 30 Beiträgen verteidigte sie freiheitliche Grundwerte wie die Pressefreiheit und ehrte jüdischstämmige Deutsche wie Felix Mendelssohn. Das ist für eine Jüdin mit Berufsverbot schon sehr außergewöhnlich.

SZ: Zurück in die fünfziger Jahre. Sprachen Sie im Unterricht auch über Tagespolitik?

Schramm: Ja, aber es war nicht so, dass sie uns eine Sicht aufzwingen wollte. Im Gegenteil: Sie beeindruckte durch die Unabhängigkeit ihres Denkens und Verhaltens. Sie erzeugte Irritationen und weckte Skepsis gegenüber dem gesellschaftlichen Selbstverständnis im Nachkriegsdeutschland.

SZ: Damals regierte ein liberal-konservatives Bündnis unter Konrad Adenauer, der auch die nachfolgenden Wahlen gewann.

Schramm: Frau Lux muss gesagt haben, dass ihr die Positionen der verschiedenen Parteien ungefähr gleich falsch erschienen und sie eigentlich keine wählen könne.

SZ: War sie Kommunistin?

Schramm: Das fragte ich mich damals auch. Von der heutigen Warte aus betrachtet würde ich sagen: Sie war linksliberal.

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