Schulen und Corona:Chaos in den Klassen

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Hohe Inzidenzen, umstrittene Regeln: Schüler in einer Klasse im elsässischen Straßburg. (Foto: Jean-Francois Badias/AP)

In Frankreich trifft Omikron die Schulen besonders hart. Lehrer und Eltern fühlen sich von der Bildungspolitik alleingelassen. Zehntausende demonstrieren. Und in Deutschland?

Von Nadia Pantel, Paris, und Paul Munzinger, München/Paris

Über die Frage, wie die Schulen durch die Pandemie zu steuern sind, wird schon seit fast zwei Jahren leidenschaftlich gestritten. Doch so hitzig wie jetzt, wo Präsenzunterricht auf Rekordinfektionszahlen trifft, war die Debatte womöglich noch nie. Noch halten Bund und Länder an ihrem Kurs der offenen Schulen fest, "solange es irgendwie geht", wie Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagt.

Doch die Zahl der Stimmen wächst, die diesen Punkt für erreicht oder überschritten halten. Den Lehrerverbänden und vielen besorgten Eltern schlossen sich in den vergangenen Wochen mehr oder minder deutlich das Robert-Koch-Institut (RKI), der Kinderschutzbund und sogar ein Kultusminister an, Helmut Holter (Linke) aus Thüringen.

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Der Ausreißversuch Thüringens, wo das neue Kalenderjahr an allen Schulen im Distanzunterricht beginnen sollte, scheiterte schließlich am Infektionsschutzgesetz. Flächendeckende Schulschließungen, heißt es da, darf es nicht mehr geben. Doch die Sorge ist groß, dass das Infektionsschutzgesetz zwar aufmüpfige Länder in die Schranken weisen kann, aber keine Chance hat gegen die Realität namens Omikron. Das Szenario, das auch die Kultusminister ausdrücklich fürchten: So viele Kinder, Jugendliche und Lehrkräfte infizieren sich oder müssen in Quarantäne, dass Schulen am Ende doch flächendeckend schließen müssen - nicht aus Mangel an politischem Willen, sondern aus Mangel an Personal.

Als mahnendes Beispiel gilt Deutschlands Nachbarland Frankreich. Dort waren, so die Zahlen des Bildungsministeriums, Anfang der Woche 10 000 Klassen geschlossen, weil Lehrer oder Schüler in Quarantäne oder infiziert waren. Dies entspricht zwei Prozent der Klassen, 50 000 Schüler sind aktuell mit dem Coronavirus infiziert.

Viele Lehrer streiken. Und viele Eltern unterstützen sie

Der Frust über die Lage an den französischen Schulen entlud sich am Donnerstag in einem massiven Protest. Laut den Gewerkschaften beteiligten sich mehr als 60 Prozent der Lehrer an Lycées und Collèges an einem Streiktag, bei den Grundschullehrern waren es 75 Prozent. Die Gewerkschaften sprachen von einer "historischen Beteiligung". Ungewöhnlich war dabei nicht nur das Ausmaß des Streiks, sondern auch das breite Bündnis, das ihn organisiert hatte. Auch Schulleiter und Elternverbände, die sich sonst selten an Protesten beteiligen, riefen dazu auf, Kinder am Donnerstag nicht in die Schule zu schicken.

Bei den Protesten ging es nicht um die Grundsatzfrage "Schulen auf oder zu" - in Frankreich fordert kaum jemand Schulschließungen. Man wolle jedoch auf das "unbeschreibliche Chaos" aufmerksam machen, das nach zwei Jahren Pandemie an den Schulen herrsche; Lehrerinnen und Lehrer seien "verzweifelt und erschöpft", sagte die Gewerkschaft Snes-FSU. Laurent Berger, Generalsekretär der reformorientierten Gewerkschaft CFDT sagte: "Das ist kein Streik gegen das Virus, sondern gegen den Mangel an Abstimmung und gegen eine Art von Missachtung." Lehrer- und Elternverbände fordern eine Ausstattung der Schulen mit Luftfiltern, Masken für Lehrkräfte und mehr Vertretungslehrer. Einige Lehrerverbände wollen zudem, dass Klassen geschlossen werden, sobald bei einem Schüler eine Covid-Infektion nachgewiesen wurde.

"Wir sind nur da, damit Eltern arbeiten gehen können", klagt eine Schulleiterin

Frankreichs Regierung ist stolz darauf, bisher beinahe ohne Schulschließungen (vom ersten Lockdown abgesehen) durch die Pandemie gekommen zu sein. Die aktuellen Infektionszahlen stellen den Lehrbetrieb jedoch vor neue Herausforderungen. In Frankreich wurden in den vergangenen sieben Tagen im Schnitt mehr als 280 000 Covid-Neuinfektionen pro Tag gemeldet - viel mehr als in Deutschland, wo es am Donnerstag etwas mehr als 80 000 waren. In der Altersklasse der unter 18-Jährigen liegt der Inzidenzwert in Frankreich bei über 3400, also deutlich über dem landesweiten Durchschnitt von 2700. Lehrer beklagen seit Wochen, dass kranke Kollegen nicht angemessen vertreten werden können. In einem Interview mit France Television sagte eine Schulleiterin am Mittwoch: "Wir haben das Gefühl, wir sind nur da, damit Eltern arbeiten gehen können, damit die Wirtschaft läuft. Ich erkenne meinen Beruf nicht wieder, es geht nur noch um Aufbewahrung, Pädagogik und Projekte sind nicht mehr möglich."

Der Zorn an den Schulen richtet sich konkret gegen den Bildungsminister Jean-Michel Blanquer. Ihm wird vorgeworfen, den Schulbeginn nach den Weihnachtsferien schlecht vorbereitet zu haben. Die Regeln für den Schulstart am 3. Januar hatte Blanquer am Abend des 2. Januar mitgeteilt. Und zwar nicht in einer Mitteilung an die Schulen, sondern in einem Interview mit der Tageszeitung Parisien, das nur für deren Abonnenten lesbar war. Wer die Informationen verpasst hatte, brauchte sich allerdings nicht lange ärgern, denn sie waren nur vier Tage später überholt. Seit dem 2. Januar wurden die Corona-Richtlinien für die Schulen drei Mal angepasst. Alle Lehrer- und Schülerverbände beklagen das Fehlen von Übersicht, Klarheit und Koordination.

Bis November wurden Klassen noch geschlossen, wenn bei mehr als drei Kindern eine Infektion nachgewiesen wurde, dies gilt nun nicht mehr. Bei besonders stark betroffenen Klassen müsse nun "von Fall zu Fall" entschieden werden. Die Mitschüler eines infizierten Kindes müssen zu Hause einen Schnelltest machen (und dann noch zwei weitere in den folgenden Tagen) und können weiter zur Schule gehen. Die Schnelltests sollen von den Apotheken für Schüler gratis zur Verfügung gestellt werden. Wird bei einem Kind eine Covid-Infektion festgestellt, kann es bis zum Ende des Schultages weiter den Unterricht besuchen. Schulminister Blanquer spricht von "vereinfachten Regeln", die Gewerkschaften sagen, dass das Ziel aufgegeben worden sei, die Schulen zu sicheren Orten zu machen. Regeln werden gelockert, andere verschärft

Auch in Deutschland werden die Regeln gelockert

Auch in Deutschland werden die Regeln zum Ärger der Lehrerverbände gelockert, um den Präsenzunterricht trotz Omikron aufrechterhalten zu können. Schülerinnen und Schüler, die Kontakt zu einem infizierten Kind hatten, können sich künftig schon am fünften Tag freitesten, per PCR- oder Schnelltest. Die Tests sollen im Gegenzug häufiger stattfinden und in einigen Bundesländern künftig auch für Genesene und Geimpfte verpflichtend sein.

Ob das reicht, um die Schulen in Präsenz durch die Omikron-Welle zu bringen, müssen die nächsten Wochen zeigen. Wie die Infektionszahlen liegen auch die Einschränkungen des Präsenzunterrichts aktuell weit unter französischem Niveau. Selbst in Bremen, das am Donnerstag die bundesweit höchste Inzidenz aufwies, war nur eine Klasse betroffen. Eine Sprecherin der Schulsenatorin betonte aber, dass die Schule erst seit Montag wieder läuft und die Auswertung von PCR-Tests noch aussteht. Womöglich müssen bald mehr Klassen zu Hause lernen - nicht nur in Bremen.

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