Serie: "Wir sind Europa":"Europa kann nicht mehr mit Grenzen leben"

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Polizisten kontrollieren am deutsch-österreichischen Grenzübergang Walserberg. Jahrelang gab es dort wegen des Schengener Abkommens freie Durchfahrt, doch das ist vorbei. Auch Staaten wie Frankreich, Schweden und Dänemark haben wieder Posten aufgebaut. (Foto: imago/Revierfoto)

Was wird aus diesem Kontinent? Ein Besuch beim langjährigen Bürgermeister von Schengen, der um die europäische Idee kämpft - und gegen Grenzkontrollen.

Reportage von Leila Al-Serori, Schengen

"Passkontrolle. Bitte lächeln." Ein junger deutscher Bundespolizist stellt sich im vorderen Teil des grünen Reisebusses in neongelber Warnweste breitbeinig auf. Mit seinen Händen macht er eine Bewegung vom Mund aufwärts zu seinen Schläfen und formt ein übertriebenes Lächeln. "Smile!"

Ein Montagnachmittag am Grenzübergang Walserberg zwischen Österreich und Deutschland. Jahrelang war auf diesem Autobahnabschnitt freie Durchfahrt, denn beide Länder gehören den 26 Staaten an, die das Schengener Abkommen unterschrieben haben und damit auf Kontrollen der Binnengrenzen verzichten. Aber nachdem im Herbst 2015 Hunderttausende Flüchtlinge die Grenze passierten, wird hier wieder kontrolliert. Auch wenn diese Zahlen längst der Vergangenheit angehören, hat Bundesinnenminister Horst Seehofer kürzlich die Grenzkontrollen ein weiteres Mal bis November verlängert.

Ein Verzicht auf diese sei "aus migrations- und sicherheitspolitischen Gründen derzeit noch nicht vertretbar", sagte er. Ähnlich sehen das sieben andere Staaten wie Frankreich, Österreich, Schweden, Dänemark - sie alle haben wieder Grenzposten an Übergängen aufgebaut. Schengen sei gescheitert, tönen Rechte wie AfD-Co-Fraktionschefin Alice Weidel oder Rassemblement-National-Vorsitzende Marine Le Pen und fordern die komplette Abschottung.

Roger Weber schnaubt, wenn er vom Walserberg hört, seine Stirn liegt in Falten. "Europa kann nicht mehr mit Grenzen leben", sagt der 67-jährige Luxemburger in fließendem Deutsch, mit einem Einschlag von Lëtzebuergesch und Französisch, der sein "nicht" wie ein "nischt" klingen lässt. Passkontrollen sind für Weber ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Dass sie jetzt innerhalb der EU wieder vielerorts Standard sind, ärgert ihn sichtlich.

Zehn Jahre lang war Weber Bürgermeister von Schengen - von dem luxemburgischen Ort an der Mosel im Dreiländereck zwischen Frankreich und Deutschland also, das dem historischen Abkommen seinen Namen gab. Nun sitzt er im blauen Anzug, die dünnen weißen Haare leicht zerzaust, im ältesten Gebäude des 500-Einwohner-Ortes. Hinter ihm an der Wand hängen goldgerahmte Fotos: Weber mit Jean-Claude Juncker, Weber mit Martin Schulz, auch Angela Merkel und der Papst waren schon da.

Roger Weber, 67, war zehn Jahre Bürgermeister von Schengen. Er kennt noch die Zeit, in der die Grenzen mit Sandsäcken gesichert wurden. Deshalb warnt er vor neuen Kontrollen. (Foto: Leila Al-Serori)

Jährlich kommen an die 40 000 Besucher nach Schengen, darunter viele Politiker. Aber auch Touristen aus der Türkei und aus China, noch mehr natürlich aus der EU, für die Schengen fast schon eine Pilgerstätte ist. Für den Traum eines Europas ohne Grenzen, Inbegriff der europäischen Ideale von Freiheit und einem zusammengewachsenen Kontinent. "Schengen ist das bekannteste Dorf der Welt - nach Bethlehem", sagt er und lacht verschmitzt. Man könnte Weber auch Mr. Schengen nennen, so vehement trommelt er bis heute für das Abkommen. Ein Europamuseum ließ er in dem Winzerort errichten, einen Shop für Touristen und Europa-Begeisterte, die sich aus einem Automat einen lila Schengen-Null-Euroschein holen können.

Nun marschiert Weber an den gusseisernen Sternen vorbei, die er am Moselufer errichten ließ und die Europa symbolisieren sollen. "Hier ankerte das Schiff", erklärt der ehemalige Bürgermeister mit feierlicher Stimme und zeigt auf das braunblaue Flusswasser, auf der anderen Seite der Mosel erkennt man die Häuser des saarländischen Perl. Das Schiff also, in dem 1985 eine Gruppe von Staatsministern ein Papier unterzeichnete, dem anfangs niemand viel Bedeutung schenkte.

Für Grenzkontrollen müsse eine konkrete Gefahr vorliegen, die nicht anders abzuwenden sei

"Es war niemandem klar, dass in diesem Moment europäische Geschichte geschrieben wurde", erzählt Weber. Er kann sich genau erinnern. Damals war er noch hauptberuflich Winzer und fuhr wie jeden Tag mit seinem Auto über die Brücke nach Deutschland und dann ein paar Minuten weiter nach Frankreich zu seinem Weinberg. Seinen Pass musste er damals noch bei jeder Fahrt zur Arbeit parat haben, das Schiff, das an diesem Tag vor Schengen ankerte, würdigte er nur eines beiläufigen Blickes. "Ich habe mir damals wie alle gedacht: Sind ja nur Staatssekretäre da, das Abkommen hält sowieso nicht." Dann grinst er und zieht die grauen buschigen Augenbrauen hinauf. "Aber es kam anders."

Heute umfasst der Schengen-Raum 26 europäische Staaten. Jahrelang galt das Abkommen als Erfolgsgeschichte, als Inbegriff europäischer Ideale. Doch mit den Terrorangriffen und der wachsenden Zahl an Flüchtlingen im Herbst 2015 mehrten sich die Staaten, die ihren Grenzschutz lieber wieder selbst in die Hand nehmen wollten. So wie Deutschland, auch wenn das die EU-Kommission und Experten rügen.

Constantin Hruschka vom Münchner Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik hält die Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze für rechtswidrig. Der Europäische Gerichtshof habe bestätigt, dass eine konkrete Gefahr vorliegen müsse, die nicht anders abzuwenden sei. "Beides ist nicht der Fall. Man verlässt mit diesen Kontrollen den rechtlichen Rahmen für Symbolpolitik."

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Schließlich kontrolliere Deutschland ja auch nur drei von 72 Übergängen. Da gehe es weniger um tatsächliche zielführende Kontrollen als darum, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu bedienen. Dass das überhaupt durchgehe und kein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werde, liege daran, so Hruschka, dass es sich um Staaten handele, die in der EU ein riesiges Gewicht haben und ganz stark den europäischen Gedanken unterstützen. Deshalb beschränkt sich auch die EU-Kommission bisher auf Worte, wenn auch auf drastische: "Wenn Schengen stirbt, wird Europa sterben", sagte EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos.

Dass es wirklich so kommen könnte, kann Altbürgermeister Weber kaum glauben. In Schengen selbst ist davon auch nichts zu spüren. Nur an den unterschiedlichen Verkehrsschildern lässt sich am Dreiländereck erkennen, dass man von Deutschland nach Frankreich oder Luxemburg fährt. Die Grenze selbst ist unsichtbar. Und die Europabegeisterung ist dort auch in manchen Vorgärten zu sehen: in Form einer Europafahne neben den Hortensien.

Blick auf Schengen und die Mosel, am Horizont Deutschland und Frankreich. (Foto: Leila Al-Serori)

Für ein kleines Land wie Luxemburg sei eine Rückbesinnung auf nationale Grenzen tödlich, sagt Weber. Schließlich pendeln jeden Tag Tausende Menschen von den Anrainerstaaten in das Land, der heutige Wohlstand sei nur der EU zu verdanken.

Aber er könne das Abkommen nicht allein verteidigen. Auch wenn er das durchaus versucht. So wie 2015. Da reiste der damalige Front-National-Vize Florian Philippot nach Schengen, um das Abkommen mit einem Kranz zu begraben. Doch er bekam es mit Weber persönlich zu tun. "'In Schengen könnt ihr nicht machen, was ihr wollt', habe ich ihm zugerufen", erzählt Weber. "Und dann habe ich seinen Kranz zertrampelt." Weber grinst, aber im nächsten Moment ist er wieder ernst. "Diese Menschen wollen nicht aus der Geschichte lernen. Europa hat den Menschen so viel gebracht - ich verstehe einfach nicht, dass man heute noch so denken kann." Die Europawahl sei deshalb diesmal so wichtig wie noch nie.

"Wir müssen uns entscheiden, ob wir die Freiheit und den Frieden, die die Europäische Union gebracht hat für den Kontinent, bewahren wollen", sagt er. Man könne dies eigentlich nur mit Ja beantworten, sagt der Luxemburger und zeigt auf die andere Seite der Mosel, rüber nach Deutschland. "Als ich ein Junge war, haben wir niemanden auf der deutschen Seite gekannt. Die Grenzübergänge waren mit Sandsäcken gesichert." Weber seufzt. "Ein Europa ohne Grenzen war damals Fantasie, heute ist es Realität. Wir haben keinerlei Trennung mehr, wir haben Familie dort wie hier, Freunde dort wie hier." Das sei ja auch im bayerisch-österreichischen Grenzland rund um den Walserberg so, sagt Weber, und an vielen weiteren Orten in Europa. "Das gilt es für die Zukunft zu bewahren."

© SZ vom 14.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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