Medien in Russland:Der Kreml geht immer rücksichtsloser gegen die freie Presse vor

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Demonstranten in Moskau schwenken russische Fähnchen bei einem Protest zur Unterstützung von Alexej Nawalny. Viele derer, die darüber berichteten, bekamen später Besuch von der Polizei. (Foto: Denis Kaminev/dpa)

Unabhängige Medien werden zu "ausländischen Agenten" erklärt, auch einzelnen Mitarbeitern drohen Konsequenzen. "Das ist eine sehr brutale Taktik", sagt ein Chefredakteur.

Von Silke Bigalke, Moskau

Es sind schwierige Tage für Iwan Kolpakow, Tage, in denen er immer wieder denkt: "Es ist vorbei." Vorbei mit seinem Online-Magazin Meduza, einem der wenigen unabhängigen russischen Medien, die es noch gibt. Natürlich wussten er und sein Team, dass es sie irgendwann treffen könnte, nun wurde Meduza tatsächlich zum "ausländischen Agenten" erklärt. Das Magazin hat seinen Sitz in Lettland, wurde aber von russischen Journalisten gegründet und veröffentlicht in russischer Sprache. Etwa die Hälfte der 60 Mitarbeiter arbeiten von Russland aus.

Es sei alles noch "viel härter, als wir erwartet haben", sagt der Chefredakteur. Über jeden Artikel müssen sie nun in großer Schrift auf das Agenten-Label hinweisen. Kolpakow erwartet, dass praktisch kein russisches Unternehmen mehr Anzeigen daneben schalten möchte. "Wir verlieren Werbekunden in diesem Moment", sagt er während des Skype-Interviews. "Die Entscheidung des Justizministeriums tötet unser Geschäft."

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Das Vorgehen wird offener und rücksichtsloser

Das zweite Problem sind die Quellen, vor allem in Behördenkreisen. Wer möchte schon mit einem Auslandsagenten reden? Drittens kann nun jeder Mitarbeiter von Meduza persönlich zum Agenten erklärt werden, was kaum erfüllbare Auflagen bei drohenden Strafen mit sich brächte. "Das ist eine sehr brutale Taktik", sagt Kolpakow.

Es ist die Taktik eines Machtapparats, der sich durch Gesetzesänderungen immer mehr Instrumente geschaffen hat, um Kritiker, Aktivisten, Oppositionelle, praktisch jeden Bürger vor Gericht stellen und notfalls einsperren zu können. Neu ist, dass er diese Instrumente offener und rücksichtsloser anwendet als je zuvor. Eines der größten unabhängigen Medien wird zum Agenten erklärt. Gleichzeitig soll das größte oppositionelle Netzwerk - das von Alexej Nawalny - als "extremistisch" eingestuft werden.

Das Regime greife zu immer radikaleren Maßnahmen, schreibt Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja auf Telegram. Die unabhängige Opposition habe für den Kreml praktisch "ihr politisches Recht auf Existenz" verloren. Die liberalen Medien stünden aus Sicht des Sicherheitsapparats "auf Nawalnys Seite und müssen deswegen ,neutralisiert' werden".

Reporter werden festgenommen

Journalisten riskieren in Russland seit Jahren ihre Freiheit, ihre Gesundheit und ihr Einkommen. Allein 2020 zählte die Organisation "Glasnost Defense Foundation" 1934 Vorfälle, Festnahmen, Gerichtsverfahren, Zensurversuche, Überfälle auf Journalisten. Die Restriktionen nehmen zu: Wer etwa über Proteste berichten will, muss eine neongrüne Weste, einen Redaktionsbrief in der Tasche und einen nach strengen Vorgaben gefertigten Ausweis um den Hals tragen - und wird manchmal trotzdem festgenommen. Als Zehntausende Russen Ende April auf die Straße gingen, um einen Arzt für Nawalny zu fordern, klopfte in den Tagen danach die Polizei bei zahlreichen Reportern an die Tür. Angeblich hatten sie die Regeln verletzt.

Galina Arapowa ist Direktorin des russischen "Mass Media Defence Centre", das auch als Auslandsagent registriert ist und Medien berät. "Wir dachten, wir hätten den Tiefpunkt erreicht, aber dann hörten wir jemanden von unten klopfen", zitierte sie nach der Meduza-Entscheidung ein russisches Sprichwort. Die Lage sei "extrem schlecht" - aber vielleicht sei das noch nicht das Ende.

"Es ist unmöglich, unter diesen Bedingungen zu arbeiten"

Die radikalsten Maßnahmen richten sich derzeit gegen die Organisationen von Alexej Nawalny: gegen seine Stäbe, die mit Ortsgruppen von Parteien vergleichbar sind, und gegen seine Stiftung, die über Korruption berichtet. Beide sollen als "extremistisch" eingestuft werden, bis zum Gerichtsurteil hat die Staatsanwaltschaft ihnen Arbeitsverbot erteilt. Bereits vergangenen Donnerstag hat Nawalnys Stabschef Leonid Wolkow die regionalen Gruppen aufgelöst, um deren Mitarbeiter zu schützen. Jeder, der eine als extremistisch eingestufte Organisation unterstützt, kann bestraft werden, womöglich mit Gefängnis. "Es ist unmöglich, unter diesen Bedingungen zu arbeiten", sagt Wolkow.

Die Verfolgungswelle zieht immer weitere Kreise. Mitte April durchsuchte die Polizei die Redaktionsräume von Doxa und die Wohnungen von vier Redakteuren des Studierendenmagazins. Doxa berichtet auch über Repressionen an Universitäten, etwa wenn Studierenden vor Protesten mit Exmatrikulation gedroht wird. Im Januar erklärten die Redakteure in einem Video, dass sich Studenten nicht einschüchtern lassen sollten. Den vier Redakteuren wird nun vorgeworfen, Minderjährige zu "illegalen Aktionen" aufgerufen haben. Sie stehen unter Hausarrest, dürfen nur zwei Stunden täglich raus, das Internet nicht benutzen. Ihnen drohen schlimmstenfalls bis zu drei Jahre Haft.

Aus Sicht des Kreml sind die Feinde meist vom Ausland gesteuert

Anwalt Leonid Solowjow vertritt einen der vier Redakteure. Er hat früher selbst im Ermittlungsbüro gearbeitet, dann aus Überzeugung die Seiten gewechselt. Es sei neu, sagt er, dass ganze Berufsstände wie Journalisten oder Gesellschaftsgruppen wie Studenten verfolgt würden. Er erklärt sich das damit, dass "die Suche nach inneren Feinden eine Ideologie ersetzen muss". Die Behörden müssten den Schein aufrechterhalten, gegen diese Feinde zu kämpfen.

Aus Sicht des Kreml sind diese Feinde meist vom Ausland gesteuert. Außer Meduza sind 18 Medien, Journalisten und Blogger als ausländische Agenten gelistet, darunter Radio Swoboda und Voice of America, die aus den USA finanziert werden.

Meduza-Chefredakteur Kolpakow sagt, die russischen Behörden glaubten nicht, dass unabhängiger Journalismus existiere. "Sie haben dieses Bild von der Welt, dass jeder von irgendwem bezahlt ist und daher an einem politischen Prozess teilnimmt." Womöglich sind Meduza die diplomatischen Verwerfungen zwischen Riga und Moskau zum Verhängnis geworden. In Lettland wurde der russische Staatssender RT blockiert, dem Riga nicht zu Unrecht Propaganda vorwirft. Anders als RT ist Meduza privat finanziert und unabhängig.

"Ein starkes, faires, unabhängiges Medium ist heute praktisch unmöglich in Russland", sagt Kolpakow. Er und sein Team haben in den vergangenen Tagen ihre Optionen diskutiert, Sparpläne aufgestellt, Gehälter gekürzt. Am Tag nach dem Interview starten sie einen Spendenaufruf. Während Kolpakow noch spricht, meldet Meduza, dass sich Kremlsprecher Dmitrij Peskow geäußert hat. Peskow sagt, heutzutage würde man "das Verschwinden eines Mediums nicht stark spüren." Iwan Kolpakow übersetzt das mit: "Es ist uns egal."

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