Russland:Prigoschin, der Absturz und viele offene Fragen

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In dem Flugzeug, das in der russischen Region Twer abgestürzt ist, soll außer Jewgenij Prigoschin auch Dmitrij Utkin, ein Mitgründer der Söldnergruppe, gesessen sein. (Foto: Mikhail Tsaryuk/IMAGO)

Wladimir Putin bricht sein Schweigen und kondoliert Prigoschins Familie. Damit bestätigt Russlands Präsident indirekt, dass der Wagner-Chef bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist.

Von Matthias Kolb

Einen Tag nach dem Absturz reagiert Russlands Präsident Wladimir Putin. Er kondolierte laut russischen Agenturberichten der Familie von Jewgenij Prigoschin und nannte ihn einen "talentierten Menschen". Der beim Kremlchef in Ungnade gefallene Söldnerchef soll am Mittwoch bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sein. "Er war ein Mensch mit einem schwierigen Schicksal, und er hat ernsthafte Fehler gemacht", sagte Putin. Zugleich habe der Geschäftsmann und Söldnerführer Ergebnisse erzielt - für sich wie für die gemeinsame Sache. Seine Söldnergruppe Wagner habe einen wichtigen Beitrag in den Kämpfen in der Ukraine geleistet, der nicht vergessen werde.

Putin formulierte vorsichtig, dass ersten Erkenntnissen zufolge am Vorabend ein Flugzeug mit Angehörigen der Privatarmee Wagner abgestürzt sei. Er kündigte eine umfassende Aufklärung des Absturzes an. Man werde sehen, was die Ermittler herausfänden, sagte Putin. Dies könne dauern, so der Präsident. Den ganzen Tag über war gerätselt worden, ob er sich zu dem Absturz und dem mutmaßlichen Tod Prigoschins äußern würde.

Putin hatte am Donnerstag per Video eine kurze Rede zum Abschluss des Brics-Gipfels in Johannesburg gehalten. Darin gab er noch keine Hinweise darauf, was er über den mutmaßlichen Tod des Gründers der Wagner-Miliz denkt. Weil er wegen einer Anklage wegen Kriegsverbrechen nicht nach Südafrika reisen wollte, wurde Putin dort von Außenminister Sergej Lawrow vertreten - dieser äußerte sich bisher ebenso wenig zur Causa wie Kremlsprecher Dmitrij Peskow.

Prigoschin galt lang als Vertrauter Putins, der seine 2014 gegründete Wagner-Söldnergruppe auch in afrikanischen Staaten einsetzte. An der von Putin befohlenen Invasion der Ukraine nahmen Zehntausende Wagner-Kämpfer, darunter viele Strafgefangene, seit Februar 2022 teil. Prigoschins über Monate hinweg eskalierte Kritik am Verteidigungsministerium und dem russischen Generalstab gipfelte am 23. Juni in einem Aufstand gegen die Militärführung. Dem folgte ein Marsch von bewaffneten Kämpfern in Richtung Moskau. Prigoschin brach diesen nach einer Vermittlung des belarussischen Machthabers Lukaschenko ab; zuvor hatte Putin den Wagner-Chef zum Verräter erklärt.

Anhänger Prigoschins legen in St. Petersburg Blumen nieder

Dass dessen Flugzeug auf den Tag genau zwei Monate später vom Himmel fiel und Prigoschin genau wie die drei Mitglieder der Crew und sechs weitere Insassen relativ schnell nach dem Absturz von der russischen Luftfahrtbehörde Rosawiazija für tot erklärt wurde, führte umgehend zu Spekulationen. Der Wagner nahestehende Telegram-Kanal "Grey Zone" verkündete schon am Mittwochabend, dass Prigoschin ebenso tot sei wie Dmitrij Utkin, ein Mitgründer der Söldnergruppe. In dem Kanal wurde behauptet, dass das Flugzeug von der russischen Flugabwehr getroffen worden sei. Das Flugzeug sei hingegen abgestürzt und habe am Boden Feuer gefangen, behauptet die russische Nachrichtenagentur Tass. Auch diese Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen. In St. Petersburg, der Heimatstadt Putins und Prigoschins, wurden massenhaft Blumen zu Ehren des Wagner-Gründers niedergelegt.

International wurden die Bilder des rauchenden Wracks des Embraer-Flugzeugs RA-02975 und die offiziellen Mitteilungen unterschiedlich kommentiert. US-Präsident Joe Biden zeigte sich wenig überrascht und sagte auf die Frage von Reportern, ob seiner Ansicht nach Russlands Präsident Putin hinter dem Absturz stecke: "Es gibt nicht viel, was in Russland passiert, hinter dem Putin nicht steckt." Er wisse aber nicht genug, um dies beantworten zu können, so Biden. Frankreichs Regierungssprecher Olivier Véran äußerte "berechtigte Zweifel" an der offiziellen Moskauer Darstellung.

(Foto: SZ-Karte/OSM Contributors)

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock äußerte Verständnis für die Spekulationen, "weil natürlich auf offizielle russische Verlautbarungen kein Verlass ist". Am Rande eines Treffens mit ihrem kirgisischen Amtskollegen Dscheenbek Kulubajew in Berlin sagte sie, dass es "kein Zufall" sei, "dass die ganze Welt auch jetzt auf den Kreml" schaue, wenn zwei Monate nach einem gescheiterten Aufstand "ein in Ungnade gefallener Ex-Vertrauter Putins plötzlich sprichwörtlich vom Himmel" falle. Man kenne dieses Muster, sagte Baerbock und erwähnte "Todesfälle und dubiose Selbstmorde, Fensterabstürze, die alle letztendlich unaufgeklärt bleiben".

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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij betonte, sein Land habe nichts mit dem mutmaßlichen Tod Prigoschins zu tun. "Jeder weiß, wer etwas damit zu tun hat", sagte er am ukrainischen Nationalfeiertag vor Journalisten. Der BBC zufolge geht man im britischen Verteidigungsministerium davon aus, dass für den Absturz von Prigoschins Flugzeug "höchstwahrscheinlich" der russische Inlandsgeheimdienst FSB verantwortlich gewesen sei. Profitieren würden vor allem Prigoschins Erzfeinde: Verteidigungsminister Sergej Schojgu und Generalstabschef Walerij Gerassimow.

Bei einem Besuch in der Ukraine verdächtigte der litauische Präsident Gitanas Nausėda ebenfalls den Kreml, den Söldnerchef ausgeschaltet zu haben. Auf die schwierige Sicherheitslage in der Region habe dies kaum Einfluss. "Der Tod von Prigoschin, wenn er tatsächlich bestätigt wird, ändert wenig", sagte Nauseda, dessen Land sowohl an Russland als auch an Belarus grenzt. Weil nach dem gescheiterten Aufstand Tausende Wagner-Kämpfer in Belarus ihr Lager aufgeschlagen haben, sind Litauen, Lettland und Polen sehr besorgt. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki geht davon aus, dass die Söldnergruppe nun unter Putins Kontrolle kommt. Dadurch werde die Bedrohung für Polen größer. Das Land gehört wie Lettland und Litauen der Nato und der EU an.

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