Genozid in Ruanda:Tausend Hügel, tausend offene Haftbefehle

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Eine Ausstellung in Kigali zeigte vor genau fünf Jahren Fotos von Opfern des Genozids. Bis heute sind viele der Verbrechen ungeklärt. (Foto: Ben Curtis/AP)

Auch nach 30 Jahren ist der Völkermord in Ruanda noch nicht juristisch abgeschlossen und aufgearbeitet. Und das ist nur ein Grund, warum die Versöhnung besonders schwerfällt.

Von Paul Munzinger, Kapstadt

Vor 15 Jahren, im Jahr 2009, bewarb sich bei der Sicherheitsfirma von Nicol Carstens in Kapstadt ein Mann aus Ruanda um einen Job. Er heiße Donatien Nibasumba, sagte er, und sei in seiner Heimat Schulleiter gewesen. Doch wegen des Völkermords 1994 habe er fliehen müssen und sei schließlich hier gelandet, in Südafrika. Carstens stellte den Mann ein. Er schickte ihn als Wachmann auf ein Weingut und war begeistert von dem neuen Mitarbeiter. "Er war ein Gentleman", sagt Carstens, heute 63. "Er war höflich. Er war gebildet. Er war nie zu spät."

Vor knapp einem Jahr, am 24. Mai 2023, verhaftete die südafrikanische Polizei den Mann, der sich Donatien Nibasumba nannte. Sein wahrer Name: Fulgence Kayishema. Er war in Ruanda kein Schulleiter gewesen, sondern Polizeichef in einem Dorf namens Kibuye. Dort soll er im April 1994 an der Ermordung von mehr als 2000 Männern, Frauen und Kindern maßgeblich beteiligt gewesen sein. Er soll das Benzin besorgt haben, um die Kirche anzuzünden, in die sich die Menschen geflüchtet hatten. Danach soll er mit einem Bulldozer die Überlebenden überrollt haben. "Ich konnte es nicht glauben", sagt Carstens.

Noch immer werden Massengräber entdeckt

In nicht einmal 100 Tagen, zwischen 7. April und Mitte Juli 1994, ermordeten Angehörige der Hutu-Mehrheit in Ruanda mindestens 800 000 Menschen, die meisten von ihnen Tutsi. 30 Jahre ist das jetzt her. Doch noch heute werden in dem kleinen Staat im Zentrum Afrikas - wegen seiner vielen Berge das Land der tausend Hügel genannt - Massengräber entdeckt. Und bis heute wird auf der halben Welt nach mutmaßlichen Tätern gefahndet - mutmaßlichen Tätern wie Fulgence Kayishema. Die beispiellose juristische Aufarbeitung dieses Völkermords ist noch nicht beendet.

Mehrere Instanzen sollten nach 1994 dafür sorgen, dass die Täter nicht straffrei davonkommen. Die meisten Fälle hatte die ruandische Justiz zu bewältigen, die damit heillos überfordert war - auch weil fast alle Richter im Land den Völkermord nicht überlebt hatten. Also wurden die sogenannten Gacaca-Gerichte wiederbelebt, traditionelle Laiengerichte, die unter Beteiligung der Bevölkerung in den Dörfern urteilten, wo auch die Verbrechen begangen worden waren. Zwischen 2002 und 2012 führten die Gacaca-Gerichte mehr als eine Million Prozesse und verurteilten Hunderttausende Menschen - in einem Land mit heute etwa 13 Millionen Einwohnern.

Bereits im Herbst 1994 richteten die Vereinten Nationen zudem den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) ein, der die Rädelsführer vor Gericht bringen sollte. 93 Politiker, Militärangehörige, Geschäftsleute und andere Hauptverdächtige klagte der ICTR an. 62 wurden verurteilt - erstmals auch wegen Völkermords. Das Gericht schrieb Geschichte, zog aber auch Kritik auf sich - denn mögliche Verbrechen der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), die den Bürgerkrieg gewann, den Völkermord beendete und bis heute das Land regiert, blieben außen vor. "Dass auch viele unbeteiligte Hutu getötet worden sind, wird bis heute tabuisiert", sagt der Völkerrechtler Gerd Hankel vom Hamburger Institut für Sozialforschung. "Für das Zusammenleben in Ruanda ist das eine große Hypothek."

143 Verdächtige werden in Europa vermutet

2015 stellte der ICTR seine Arbeit ein und übergab seine offenen Fälle einem Gericht mit dem sperrigen Namen "Internationaler Residualmechanismus". Einer dieser Fälle war Fulgence Kayishema. "Es war wie ein Puzzle, das wir aus vielen Einzelteilen zusammensetzen mussten", sagt der belgische Jurist Serge Brammertz, seit 2016 Chef des Residualmechanismus. Gemeinsam mit seiner sechsköpfigen Tracking Unit rollte er die verbleibenden acht Fälle neu auf und durchleuchtete das Umfeld der Gesuchten: Telefondaten, Social Media, Kontobewegungen. Über die Familie, die ebenfalls in Südafrika lebte, spürte man schließlich auch Kayishema auf, der über Burundi, Tansania, Mosambik und Eswatini am Kap gelandet war.

Von den acht Flüchtigen auf Brammertz' Liste sind heute nur noch zwei übrig. Ob die beiden Männer noch leben, ist unklar. Gut möglich also, dass Kayishema der letzte große Name ist, der wegen des Völkermords in Ruanda verhaftet worden ist. Doch der letzte flüchtige Verdächtige ist er nicht. Ruanda sucht per Haftbefehl noch nach 1149 mutmaßlichen Tätern in 33 Ländern. Der Großteil soll in Afrika sein, doch 143 werden in Europa vermutet, 47 allein in Frankreich. Die Zahlen seien "mit Vorsicht zu genießen", sagt Brammertz, weil die ruandische Liste schon länger nicht aktualisiert worden sei. Doch um die tausend Flüchtige dürften es sein.

Im heutigen Konflikt geht es auch um Bodenschätze

Dass sie noch immer auf freiem Fuß sind, habe viele Ursachen, sagt der Völkerrechtler Hankel. Für europäische Gerichte etwa seien die von Ruanda vorgelegten Beweise häufig nicht stichhaltig genug gewesen. Und auch wenn es eine Reihe von Ruanda-Prozessen in Europa gab: Nicht selten habe die Justiz schlicht den großen Aufwand gescheut - und darauf gehofft, dass sich das Problem mit der Zeit selbst erledigt. Doch das ändere sich gerade. Das sieht auch Serge Brammertz so - und verweist auf Frankreich, wo derzeit Dutzende Ruanda-Verfahren liefen, so viele wie noch nie. "Es wird jetzt teilweise nachgeholt, was über die letzten 30 Jahre versäumt wurde", sagt Brammertz.

Die meisten Gesuchten auf der Liste - mehr als 400 - sollen sich in der Demokratischen Republik Kongo befinden, Ruandas westlichem Nachbarn. Dass sie jemals auf einer ruandischen Anklagebank sitzen werden, erscheint ausgeschlossen. Die beiden Länder befinden sich im offenen Konflikt, der sich derzeit zuspitzt und seine Wurzeln ebenfalls im Völkermord 1994 hat. Tausende Hutu waren nach dessen Ende über die Grenze geflüchtet, um der Rache der Sieger zu entgehen und von dort Ruanda zurückzuerobern.

Bis heute bekriegt sich die Hutu-Miliz FDLR im Osten Kongos mit den kongolesischen Tutsi, deren bewaffneter Arm - die Gruppe M23 - wiederum aus Ruanda unterstützt wird. Doch dass es Ruandas Präsident Paul Kagame dabei wirklich nur um Sicherheit und Gerechtigkeit geht, bezweifeln Beobachter. "Ruanda hat am Ostkongo vor allem deshalb Interesse, weil es dort viele Bodenschätze gibt", sagt Hankel.

Ein Ende ist auch im Fall von Fulgence Kayishema nicht absehbar. Fast ein Jahr nach seiner Festnahme ist er immer noch in Untersuchungshaft in Südafrika. "Es beginnt, ärgerlich zu werden", sagt Serge Brammertz.

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