Rita Süssmuth, 80, war Mitte der 80er Jahre Familienministerin und die erste Frauenministerin auf Bundesebene. Von 1988 bis 1998 war die CDU-Politikerin Bundestagspräsidentin und saß zwischen 2000 und 2001 der Unabhängigen Kommission Zuwanderung vor.
SZ.de: Frau Süssmuth, Sie waren fast zehn Jahre Bundestagspräsidentin. Mehr als 90 Abgeordnete einer rechtspopulistischen Partei werden im Parlament eine eigene Fraktion bilden. Was wird sich aus Ihrer Erfahrung im neuen Bundestag verändern?
Rita Süssmuth: Wir haben heftige Auseinandersetzungen zu erwarten. Erstmals seit den 1950er Jahren werden wir die Debatten hören, die nicht proeuropäisch geführt werden, sondern von einer Rückkehr zum Nationalen und nationalen Interessen getragen werden. "Wir holen uns unser Land zurück" ist kein neuer Slogan, sondern stammt aus sehr alten, längst überwunden geglaubten Zeiten.
Bei dem Satz "Wir werden Merkel jagen" ...
... wäre die erste Ermahnung des Bundestagspräsidenten fällig. Das ist nicht der Sprachgebrauch, der in unserem Parlament zulässig ist. Kein Parlamentspräsident könnte den so stehen lassen.
Das geht ja weiter, gerade fragte der designierte AfD-Fraktionschef Alexander Gauland sinngemäß, ob das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson gehören müsse. Wird es jetzt vier Jahre lang neue Provokationen geben?
Das hängt von uns ab! Wir müssen uns darauf einstellen, postwendend als wehrhafte Demokratie Gegenargumente aufzubauen und darauf zu reagieren. Wer das Existenzrecht Israels bezweifelt, steht nicht auf dem Boden unserer Verfassung.
Welche Möglichkeiten hat der Bundestagspräsident, die Abgeordneten zur Räson zu bringen?
Klare Aussagen ohne Missverständnisse. Die Abgeordneten, sicher auch unter Führung des Bundestagspräsidenten oder der -präsidentin, haben unmittelbar darauf zu antworten, was richtig also Faktum, und was falsch ist.
Und wenn es nur eine Meinungsäußerung ist?
Dann muss ich auch der Meinungsaussage mit Argumenten gegenübertreten. Die Abgeordneten und der Bundestagspräsident müssen also gut vorbereitet sein, scharf und schnell reagieren. Einerseits müssen sie formal richtig handeln und die AfD als Fraktion anerkennen, aber andererseits die Auseinandersetzung durchaus konfrontativ mit ihnen suchen. Man darf nicht glauben, dass sich das Phänomen AfD von selbst erledigen wird, das hat es bisher auch nicht: Diese Gruppe ist schon in 13 von 16 Landesparlamenten vertreten.
Die Gruppe ist allerdings heterogen.
Ja, sie hat eine extreme Seite und eine andere, die sagt, dass sie mit dem völkisch-nationalen Gedanken nicht so weitermachen will wie bisher. Weder bei der Wählerschaft der AfD noch bei allen Abgeordneten ist davon auszugehen, dass es sich nur um Rechtsradikale handelt. Darunter sind auch verunsicherte, unzufriedene Menschen mit tiefsitzenden Ängsten, die wir auch ernst nehmen müssen. Mit denen müssen wir gemeinsam nach Antworten suchen, auch wenn es oft keine einfachen Antworten gibt. Es wird also ein dialogischer Suchprozess, bei dem auch im Streit Positionen geklärt werden müssen.
In Ihrer Zeit als Bundestagspräsidentin gab es weniger Parteien im Parlament, nun werden es sechs Fraktionen sein. Macht das das Amt schwieriger?
Natürlich, da man auf sechs Parteien eingehen und Rücksicht nehmen muss. Es wird dadurch auch langwieriger, aber das muss nicht erschrecken. Wir hatten auch in der Anfangsphase der PDS durchaus harte Auseinandersetzungen und haben daraus gelernt. Genauso wie die Abgeordneten in den Landesparlamenten lernen mussten, sich mit der NPD, den Republikanern oder der DVU auseinanderzusetzen, muss dieser Lernprozess nun auch im Bundestag stattfinden.
Ignorieren geht also nicht?
Nein, es ist wehrhafte Demokratie, wenn wir die Auseinandersetzung suchen. Wir dürfen nicht denken, dass sich das schon von selbst gibt. Diese Leute haben ja durchaus einen Resonanzboden, Menschen, die ihnen zustimmen. Wenn die AfD die These vertritt, dass Frauen wieder ihre Familienaufgabe wahrnehmen sollen und Frauenrechte gar kein Thema mehr sind, dann gibt es für solche Positionen Unterstützer. Bis hin zu den Fragen, wie wir mit Gewalt umgehen oder wie wir mit Muslimen umgehen, mit denen wir hier in Deutschland in großer Zahl friedlich zusammenleben und denen vielfach unterstellt wird, dass sie Terroristen seien. Konstruktiv müssen wir darüber reden, wie wir angesichts der rapiden Veränderungen der Arbeitswelt Arbeitsplätze und soziale Sicherungssysteme erhalten können. Oder nehmen wir das große Thema der Bildung, über das wir seit Jahren reden.
Was war Ihre Reaktion zum Abschneiden Ihrer Partei?
Man konnte diesen Schwenk zum Nationalen oder Nationalistischen bereits in den USA und in vielen Staaten in Ost- und Westeuropa sehen, trotzdem war ich erschrocken. Wir müssen uns mit den Ängsten auseinandersetzen, die die Menschen anscheinend überall auf der Welt haben. Aber genauso wichtig ist es, sich darum zu kümmern, dass Menschen Wohnungen zu bezahlbaren Preisen finden, die auch ihrem Platzbedarf zumindest halbwegs entgegenkommen.
Glauben Sie, dass es eine besondere Wahl war, bei der die Volksparteien so stark geschwächt und die kleineren gestärkt hervorgingen?
Auch in Frankreich, den Niederlanden oder Dänemark haben die traditionellen Volksparteien starke Schwächungen erlebt. Viele Menschen hatten jetzt auch bei uns den Eindruck, dass sie weniger gehört werden, wenn sich die großen Parteien zu einer Koalition zusammenschließen, obwohl das gar nicht stimmt.
Haben Sie Verständnis dafür, dass die SPD jetzt in die Opposition gehen will?
Dafür habe ich Verständnis. Ich sehe das auch nicht als Verweigerung, sondern als eine existenzielle Frage für die SPD. Schließlich hat sie sich abermals in der großen Koalition verkleinert. Und das, obwohl sie darin erhebliche Leistungen eingebracht hat. Nur ist sie damit bei den Wählern nicht rübergekommen. Gerade Arbeitsministerin Andrea Nahles hat beispielsweise mit der Einführung des Mindestlohns viel erreicht. Vielleicht konnten die SPD und wir aber nicht gut beantworten, was sie denn zum Schutz der Menschen angesichts der Globalisierung tun möchte. Das ist aber auch nicht leicht zu beantworten angesichts einer Wettbewerbsgesellschaft, in der mehr Schutz nur durch mehr Professionalität und Solidarität erreicht werden kann. Ein Mensch mit besserer Ausbildung hat unvergleichlich mehr Chancen als einer mit geringer Ausbildung.
In Sachsen hat die AfD sogar die Union überholt.
Ich habe das noch nicht abschließend für mich bewertet, aber es reicht sicher nicht, zu sagen, das geht wieder vorbei. Hier treten Verwerfungen zu Tage, die zeigen, dass man im neuen Europa noch nicht angekommen ist.
Aber die Politik hat doch sehr viel Geld in den Osten geschoben?
Das ist nicht eine Frage des Geldes, sondern eine Frage, wie viel Verständnis und Verstehen wir aufgebracht haben. Das gilt übrigens genauso für viele Migranten, die zwar hiergekommen sind, sich aber nicht zugehörig fühlen.
Halten Sie eine Jamaika-Koalition für vier Jahre tragbar?
Ich habe viel Vertrauen in die Verantwortlichen, dass sie sich auf glaubwürdige Kompromisse einlassen und halte - bei allen Schwierigkeiten - eine Alternative zur großen Koalition auch für notwendig. Bei gutem Willen ist das zu leisten.
Ist dann endlich die Umsetzung ihres großen Projektes - des Zuwanderungsgesetzes - möglich?
Ich hoffe das sehr. Wir haben schon so viele Jahre verloren und es besteht doch keinerlei Zweifel darüber, dass wir zusätzliche, qualifizierte Arbeitskräfte brauchen. Klar müssen wir diese Menschen auswählen und dann weiterbilden. Aber die Notwendigkeit ist allen in der Union, der FDP und den Grünen klar, nur fehlte es bisher an Mut, das auch umzusetzen. Die Pläne dafür liegen in der Schublade, alles wurde mehrfach durchbuchstabiert und man kann das mit einigen kleinen Modifikationen schnell umsetzen. Es ist an der Zeit!