Die Warnung im April 2018 war unmissverständlich: "Hier entscheidet sich die Zukunft des Rechtsextremismus in Sachsen", sagte Henry Krentz. Krentz arbeitet nicht bei einer Initiative oder für eine Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt, sondern beim sächsischen Verfassungsschutz. Und das machte die Aussage bei einer Bürgerversammlung in Ostritz so bemerkenswert. Jene Behörde, die jahrelang rechtsextreme Strukturen verharmlost hatte, schien nun endlich sensibilisiert.
Auslöser für das geschärfte Problembewusstsein war damals das "Schild & Schwert"-Festival in Ostritz, organisiert von einem NPD-Politiker. Zu der Veranstaltung kamen 1200 Neonazis aus ganz Deutschland. Doch sie blieben unter sich. Die Polizei war mit 1900 Beamten vor Ort. Die Stadt feierte in Ruhe ein Friedensfest unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Michael Kretschmer. Damals wusste niemand, dass sich die Zukunftsfrage des Rechtsextremismus zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort entscheiden würde. In Köthen. In Chemnitz.
Grüne: "Es passiert etwas, und der Verfassungsschutz ist völlig überrascht."
Nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. in Chemnitz rief die örtliche Hooligan-Szene zu einer spontanen Demo am 26. August auf. Rund 800 Menschen zogen durch die Stadt, brüllten ausländerfeindliche Parolen, griffen Menschen an. Die Polizei war überfordert. All das belegen Videoaufnahmen sowie Aussagen von Augenzeugen. Die Videos sind auf sozialen Netzwerken zugänglich. Die Antifa-Gruppe "Zeckenbiss" veröffentlichte per Twitter eine Aufnahme, die Aktivisten eigenen Angaben zufolge in einer "patriotischen Gruppe" fanden. Der kurze Film zeigt, wie ein Mann aus der Gruppe heraus zwei Männern nachsetzt. Einer von ihnen ist Afghane und hat eigenen Angaben zufolge Anzeige erstattet. Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesverfassungsschutzes, zweifelte zunächst die Echtheit des Videos an - mittlerweile hat er seine Aussagen relativiert.
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Wenn Seehofer jetzt noch am Verfassungsschutzchef festhält, tut er es ihm gleich.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) verurteilte in der ersten Sitzung des Bundestages nach der Sommerpause am Dienstag rechtsextreme Gewalt: "Ausländerfeindlichkeit, Hitlergrüße, Nazi-Symbole, Angriffe auf jüdische Einrichtungen - für all das darf es weder Nachsicht noch verständnisvolle Verharmlosung geben." Doch abseits solcher Statements stellt sich die Frage, ob die Politik und die Sicherheitsbehörden den Ernst der Lage erkennen: dass Fremdenfeinde, Neonazis, Hooligans, Kampfsportler, Parteikader, jene also, die einst unter sich blieben, mittlerweile sehr gut vernetzt sind. Dass es nur einen Anlass und einen Ort braucht, um Hunderte oder auch Tausende Menschen auf die Straße zu holen. "Der Verfassungsschutz kommt seiner Funktion als Frühwarnsystem nicht nach", sagt Valentin Lippmann, innenpolitischer Sprecher der Grünen im sächsischen Landtag. Die Behörde sei auf die Mobilisierung nicht eingestellt. Das Handeln folge immer derselben Logik: "Es passiert etwas, und der Verfassungsschutz ist völlig überrascht."
Vor dem am 27. August angemeldeten "Trauermarsch" in Chemnitz warnte die Landesbehörde immerhin die örtliche Polizei vor einer hohen Anzahl der Demonstranten "im unteren bis mittleren vierstelligen Bereich". Eine Fehleinschätzung: Zu der von "Pro Chemnitz" angemeldeten Demonstration kamen 7000 Menschen, 6000 aus dem rechten Lager.
Bei der Pressekonferenz am nächsten Tag zeigten sich der sächsische Innenminister und der Ministerpräsident überrascht von der Bedeutung sozialer Medien. Dabei spielten die bereits in der Vergangenheit eine zentrale Rolle, etwa bei der Organisation der ausländerfeindlichen und teilweise gewalttätigen Demonstrationen in Freital 2015 und bei der Randale im Leipziger Stadtteil Connewitz im Januar 2016. Damals hatte der rechtsextreme Ableger von Pegida, Legida, zur Demonstration eingeladen. Rechtsextreme riefen bei Twitter und Facebook zum "Sturm auf Leipzig", von einer "Überraschung" war die Rede. Die letzten Absprachen erfolgten schließlich per Whatsapp und SMS. Am 11. Januar zogen dann 250 Rechtsextreme und Hooligans durch den linken Stadtteil Connewitz, zerstörten Geschäfte, schlugen auf Autos ein. Anwohner sowie die Polizei waren von dem Angriff überrascht worden.
Kritik an Verfassungsschutzpräsident Maaßen:Laschet: "Verfassungsschützer sollen Verfassungsfeinde beobachten"
Der NRW-Ministerpräsident kritisiert Verfassungsschutzpräsident Maaßen für dessen Umgang mit den Ausschreitungen in Chemnitz scharf. CSU-Innenminister Seehofer wirft er eine "Saddam-Hussein-Sprache" vor.
Auch Bernd Hauschild hatte vergangenen Sonntag Angst, "dass Gewalt von außen in unsere Stadt getragen wird", wie er sagt. Hauschild (SPD) ist Bürgermeister der Kleinstadt Köthen in Sachsen-Anhalt. Dort verstarb am Wochenende ein 22-Jähriger nach einer Auseinandersetzung auf dem Spielplatz am Karlsplatz. Zwei Afghanen wurden festgenommen. Nur wenige Minuten, nachdem Lokalmedien den Vorfall öffentlich gemacht hatten, riefen rechtsextreme Gruppen wie Die Rechte oder Thügida zum "Trauermarsch" auf.
Stadt und Land wollten Szenen wie in Chemnitz verhindern. Sachsen-Anhalt, das nur über drei Polizei-Hundertschaften verfügt, rief die Bundespolizei zu Hilfe. Bei einer Krisensitzung wurde Hauschild gewarnt, dass gewaltbereite Gruppen nach Köthen kommen könnten. Daraufhin forderte er die 28 000 Einwohner auf, dem "Trauermarsch" fernzubleiben.
Die Brandstifter rechter und rechtsextremer Gruppen aus ganz Deutschland fanden sich am Sonntagabend ausgerechnet vor der Feuerwehr in Köthen ein. Unter ihnen Sebastian Schmidtke, NDP-Funktionär aus Berlin, Dieter Riefling von "Die Rechte" aus Niedersachsen, der Neonazi Tommy Frenck, der im thüringischen Themar Konzerte organisiert. Frenck war auch bei Kundgebungen in Chemnitz dabei. Genauso wie David Köckert, Chef von Thügida. Es war Köckert, der den "Trauermarsch", an dem 2500 Menschen teilnahmen, in eine Hassparade verwandelte. Spontan ergriff er am Gedenkort das Wort, sprach im Zusammenhang mit dem Tod des jungen Mannes von einem "Rassenkrieg gegen das deutsche Volk". Köckert wurde wegen Volksverhetzung angezeigt.
Dass Köthen zum zweiten Chemnitz wird, glauben Beobachter der Szene nicht. Zu einer weiteren Kundgebung, zu der am Montag die Alternative für Deutschland (AfD) aufgerufen hatte, kamen lediglich 550 Menschen. Beobachtern zufolge waren diesmal keine rechtsextremen Vertreter aus anderen Bundesländern anwesend.