Die Festnahme des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel in der Türkei hatte vor zwei Wochen bereits für Aufsehen gesorgt. Nun ist der Korrespondent der Zeitung Die Welt in Untersuchungshaft genommen worden. Diese kann bis zu fünf Jahre dauern.
Was wird Deniz Yücel vorgeworfen?
Yücel hat wiederholt kritisch über die türkische Regierung und Präsident Erdoğan berichtet. Nun wird ihm Datenmissbrauch vorgeworfen, außerdem Terrorpropaganda und Volksverhetzung.
Anlass sind offenbar Yücels Berichte über E-Mails des türkischen Energieministers Berat Albayrak, Schwiegersohn des Präsidenten, in denen es unter anderem um die staatliche Kontrolle der Medien geht. Außerdem hat Yücel 2015 ein Interview mit einem hochrangigen PKK-Mitglied geführt, was ihm den Vorwurf der Terrorpropaganda einbrachte. Die Kurdenvereinigung PKK wird von der Türkei und der EU als Terrororganisation betrachtet.
Was bedeutet der Fall für das deutsch-türkische Verhältnis?
Der Fall ist zu einem Politikum zwischen Berlin und Ankara geworden. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte die Anordnung der Haft "bitter und enttäuschend". Die Regierung hoffe, dass Yücel schnell freikomme. "Diese Maßnahme ist unverhältnismäßig hart, zumal Deniz Yücel sich der türkischen Justiz freiwillig gestellt und für die Ermittlungen zur Verfügung gestellt hat", erklärte die Bundeskanzlerin.
In der Bundesregierung ist der Ärger groß, zumal die türkische Regierung jede Chance hat verstreichen lassen, dem Fall die Spitze zu nehmen. Solange Yücel in Polizeigewahrsam saß, hätte sie ihn unter Auflagen freilassen können, bis die Vorwürfe geklärt werden. Stattdessen sieht es so aus, als habe die Regierung die Lage bewusst verschärft. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Ankara von jetzt an auf die Unabhängigkeit der Justiz verweist - die türkische Regierung also gar nichts mehr tun könne, selbst wenn sie wollte.
Was kann die Bundesregierung jetzt tun?
Diplomatische Bemühungen zur Unterstützung Yücels sind immer möglich. Und sie wird es laut Bundesregierung weiter geben, auch durch enge Kontakte auf Arbeitsebene, die nach wie vor existieren.
Allerdings macht die Tatsache, dass Yücel einen türkischen Pass hat, die Betreuung durch die deutsche Botschaft und das Konsulat schwieriger. Yücel wird von den türkischen Behörden als türkischer Bürger behandelt. Deshalb gelten nicht die Regeln, die sonst nach internationalem Recht für eine konsularische Betreuung durch deutsche Diplomaten selbstverständlich wären.
Die Bundesregierung wird sich bemühen, dennoch vergleichbare Möglichkeiten zu bekommen: Sie wird versuchen, Zugang zu Yücel zu erhalten, die Haftbedingungen zu prüfen und Kontakte zu ihm zu ermöglichen. Was darüber hinaus noch machbar sein wird, kann auch das Auswärtige Amt in Berlin derzeit nicht sagen.
Wird die Bundesregierung nun ihre Türkeipolitik ändern?
Die Affäre sorgt für schwere Verstimmungen in Berlin. Sie gilt der Bundesregierung als handfester Beleg dafür, wie sehr die Türkei zurzeit auf dem Weg in einen autoritären Staat ist. Es ist schwer vorstellbar, dass Berlin einfach weitermacht wie bisher.
Für Verwirrung hatte ein Bericht gesorgt, dass Kanzlerin Angela Merkel für April einen Besuch in Ankara plane. Das wurde inzwischen jedoch dementiert. Nicht ausgeschlossen ist, dass Bundesregierung und Bundesländer künftig genauer prüfen werden, ob sie irgendeinen weiteren Auftritt türkischer Politiker in Deutschland zulassen, in denen diese für die umstrittene Verfassungsreform werben.
Eines allerdings wird die Bundesregierung bei allem Ärger nicht tun: das Flüchtlingsabkommen aufkündigen. Sie wird vielmehr alles versuchen, damit das Abkommen nicht in den Sog der aktuellen Auseinandersetzungen kommt. Ob Ankara dabei mitmacht? Das kann in Berlin aktuell niemand sagen.
Wieso kann Yücel bis zu fünf Jahre in Untersuchungshaft genommen werden?
Das hat mit dem Ausnahmezustand zu tun, der seit vergangenem Juli in der Türkei herrscht. Zwar gilt weiterhin die Unschuldsvermutung: Niemand ist schuldig, bevor ein Gericht ihn verurteilt hat. Mit dem Notstandsdekret hat die Türkei allerdings die Dauer des Polizeigewahrsams und der Untersuchungshaft ausgedehnt.
Verdächtige dürfen ohne Anklage bis zu 14 Tage festgehalten werden. Bis vor Kurzem waren es sogar 30 Tage. Vor dem Ausnahmezustand lag die Höchstdauer bei vier Tagen. Die Untersuchungshaft wurde auf maximal fünf Jahre verlängert. Zuvor waren es wie in Deutschland im Regelfall höchstens sechs Monate, erst die Erhebung einer Anklage konnte die Haftdauer auf höchstens zwei Jahre erhöhen. Amnesty International zufolge wurden im vergangenen Jahr 40 000 Menschen in der Türkei in Untersuchungshaft genommen.
Der Fall Yücel stelle "eine neue Eskalationsstufe bei der Unterdrückung der Pressefreiheit dar", sagt Christian Mihr, Direktor von Reporter ohne Grenzen Deutschland. Bislang habe es eine solche Verhaftung eines ausländischen Journalisten in der Türkei noch nicht gegeben. Weder vor der Verhängung des Ausnahmezustands am 15. Juli 2016, noch danach habe seine Organisation von vergleichbaren Fällen erfahren.
Zwar wurden ausländische Journalisten schon festgesetzt, aber stets nach wenigen Tagen wieder freigelassen. So erging es etwa im Oktober 2014 drei deutschen Journalisten, die über Proteste der kurdischen Minderheit berichten wollten. Ende Dezember vergangenen Jahres wurde dann ein US-amerikanischer Journalist des Wall Street Journal verhaftet. Auch er kam nach zwei Tagen Haft wieder frei und durfte ausreisen.
Wie berichten türkische Medien über den Fall?
Ein Großteil der Presse in der Türkei steht dem Präsidenten nahe oder wird sogar von der Regierungspartei AKP kontrolliert. Die Verhaftung Yücels ist dort kaum ein Thema. Vor allem kleinere, unabhängigere Medien übernehmen diesen Teil der Berichterstattung. Wie im Ausland liege dabei der Fokus auf der "neuen Qualität der Unterdrückung", sagt Mihr von Reporter ohne Grenzen.
Zu diesen Medien gehören unter anderem die Zeitung Cumhuriyet oder Onlinemedien wie Bianet und P24. Auch von Özgürüz wird der Fall Yücel thematisiert. Das Online-Magazin wird von den türkischen Journalisten Can Dündar und Hayko Bağdat geleitet, die in Deutschland im Exil leben.
Solidarisiert sich die Bevölkerung in Deutschland mit Deniz Yücel?
Nicht nur viele Kollegen des Journalisten zeigen sich mit ihm solidarisch. Auch aus der Bevölkerung kommt Protest gegen das Vorgehen der türkischen Regierung. So kam es in den vergangenen Tagen in Deutschland bereits zu Demonstrationen gegen die Festnahme von Yücel. Auch Protest-Autokorsos fanden schon statt. Nun rufen Unterstützer der Initiative "Free Deniz" für den späten Dienstagnachmittag in neun deutschen Städten sowie in Zürich und Wien zu weiteren Autokorsos auf. Von 16.30 Uhr an setzen sich die ersten Autokolonnen mit einem Hupkonzert in Bewegung.
Die Entscheidung für diese Art des Protests erklären die Organisatoren damit, dass der Autokorso unter den Türken besonders beliebt sei. Deniz Yücel hat selbst 2006 in der linken Wochenzeitung Jungle World anlässlich der Fußball-WM geschrieben: "Der Türke fährt für sein Leben gern hupend, jauchzend und fahnenschwenkend durch die Stadt. Kein Anlass ist ihm zu gering."
In der digitalen Welt haben bereits Tausende von Unterstützern eine Onlinepetition auf freedeniz.de unterzeichnet. Unter dem Hashtag #freedeniz dokumentieren viele Menschen ihre Empörung.
Wie ist die Situation für Journalisten in der Türkei insgesamt?
Insgesamt sitzen derzeit etwa 150 Journalisten in türkischen Gefängnissen. Mehr als 180 Medienunternehmen wurden per Regierungserlass geschlossen. Viele Journalisten wurden festgenommen, weil sie angeblich oder tatsächlich der Gülen-Bewegung nahestehen oder angehören. Die türkische Regierung macht den Prediger Fethulla Gülen für den Umsturzversuch im Juli 2016 verantwortlich.
Etliche Journalisten wurden aber auch verhaftet, weil sie mit kritischen Berichten zur Kurdenpolitik Ankaras angeblich die PKK unterstützt haben. Manche Journalisten werden von der Regierung verfolgt, weil sie Dinge ans Licht brachten, die die Regierung lieber im Dunkeln gelassen hätten.
So wurde zum Beispiel Can Dündar, ehemals Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, wegen Geheimnisverrats bereits vor dem Putschversuch zu sechs Jahren Haft verurteilt. Er hatte geheime Dokumente veröffentlicht, die belegen sollten, dass die Türkei Waffen an Islamisten in Syrien geliefert hat. Dündar konnte nach Deutschland fliehen.