Am Ende ist es nur ein weiterer Schritt, den Angela Merkel und ihre Regierung im Sommer 2013 gehen. Ein Schritt aber, mit dem wohl die unsichtbare Grenze zwischen Wahlkampfrhetorik und Täuschung der Öffentlichkeit überschritten wird. Nach außen tut diesen Schritt als erster der damalige Kanzleramtsminister Ronald Pofalla am 12. August 2013, als er vor der Hauptstadtpresse behauptet, die US-Seite habe "den Abschluss eines No-Spy-Abkommens angeboten".
Bei Pofalla bleibt es nicht. Es folgen, noch vor der Bundestagswahl, Regierungssprecher Steffen Seibert, der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich und die Bundeskanzlerin selbst. Die Formulierungen variieren, die Botschaft bleibt dieselbe: Es wird ein No-Spy-Abkommen geben. Kanzlerin Merkel formuliert es ein wenig vorsichtiger, sie sagt die Amerikaner seien bereit, "mit uns ein sogenanntes No-Spy-Abkommen zu verhandeln".
Es brauchte ein Gegengift zu den Snowden-Enthüllungen
Neue Dokumente, die Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR einsehen konnten, zeigen: Zu diesem Zeitpunkt wusste die gesamte Spitze der Bundesregierung, dass die US-Regierung eine solche Zusage nicht gegeben hatte. Damit erreicht die Affäre ein neues Niveau. Es scheint klar zu sein, dass die Regierung absichtlich getäuscht hat - mithin also das Gegenteil dessen getan hat, was Regierungssprecher Seibert vorvergangene Woche behauptet hatte: Man habe "nach bestem Wissen und Gewissen" informiert.
Eher schon wider besseres Wissen.
Aber der Reihe nach. Im Sommer 2013 prägt die Diskussion über Edward Snowdens Enthüllungen die politische Agenda. Die CDU-geführte Regierung braucht ein Gegengift, und es ist schon im Juli klar, wann dieses Gegengift eingesetzt werden soll: Am 12. August nämlich. An diesem Tag soll Kanzleramtsminister Pofalla vor das Parlamentarische Kontrollgremium und anschließend vor die Presse treten.
Was er an diesem Tag präsentieren möchte, ist einer vertraulichen E-Mail des Kanzleramts an die US-Regierung vom 31. Juli zu entnehmen. Darin heißt es, Anfang August werde eine hochrangige Delegation deutscher Geheimdienstvertreter nach Washington fliegen, um die Spitzen der US-Geheimdienste zu treffen. "Das Ziel der Gruppe wird es sein, eine schriftliche Bestätigung der US-Seite zu bekommen, dass US-Geheimdienste deutsches Recht in der Vergangenheit nicht gebrochen haben und in der Zukunft nicht brechen werden." Diese schriftliche Bestätigung wolle "Minister Pofalla am 12. August präsentieren", und zwar ausdrücklich auch der Presse.
Eine Akte ist eine physische Sammlung von Dokumenten und Schriftstücken, die von zweierlei zusammengehalten werden: erstens einem Pappdeckel, zweitens einem durchgehenden Gedanken. Eine Akte (von lateinisch acta, das Verhandelte) kann jegliches Papier enthalten, das der Bearbeiter für diesen Gedanken für relevant hält. Bei Behörden und Gerichten ist es wichtig, dass dabei eine bestimmte standardisierte Form eingehalten wird, da Akten regelmäßig weitergereicht und ausgetauscht werden. Was genau sich der Mensch, der die Akte führt, dabei gedacht hat, verraten aber nur seine Vermerke. Dies sind kurze Notizen, die zwischen die gesammelten Unterlagen eingestreut sind. Sie tragen stets ein Datum und einen Verfassernamen. Sie sind kein Rechtsakt, sondern ein lediglich kommunikativer Akt zwischen Autor und potenziellem Leser. Das "Juristische Wörterbuch" des Innsbrucker Professors Gerhard Köbler definiert den Aktenvermerk als "meist für spätere Beweiszwecke oder als Gedächtnisstütze zu den Akten gebrachter schriftlicher Vermerk über einen Vorgang oder sonstigen Sachverhalt". Im August 2013 fertigte der für die Nachrichtendienste zuständige Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt einen solchen Vermerk, der seine Skepsis über die Chancen für ein sogenanntes No-Spy-Abkommen mit den USA festhielt. Darunter notierte jemand per Hand: "Lag der Bundeskanzlerin vor". Ronen Steinke