Nach dem Militärputsch in Niger am 26. Juli kursierten in Europas Hauptstädten zwei Schreckensszenarien über die weitere Entwicklung im Land. Erstens: Die Russen breiten sich in Niger aus, so wie zuvor in Mali und anderen Ländern. Zweitens: Die neuen Machthaber in Niger kündigen den Flüchtlingsdeal mit Europa. Das erste dieser Szenarien ist nach wie vor möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Das zweite ist nun, vier Monate nach dem Putsch, eingetreten.
Der Nationale Rat zur Rettung des Vaterlandes, der in Niger seit dem Sturz des gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum herrscht, verkündete am Montag, dass er das Gesetz mit der Ordnungsnummer 2015-36 aufgehoben habe. Das Gesetz stellte den Transport von Migranten durchs Land unter Strafe. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Europa und auf Druck aus Brüssel hatte die damalige Regierung in Niamey dieses Gesetz im Mai 2015 verabschiedet. Es sollte die Transitroute für Migranten aus dem südlichen Afrika durch die Sahara Richtung Mittelmeer schließen. Im Gegenzug erhielt Niger Militär- und Entwicklungshilfe aus Brüssel.
Das Abkommen war aus mehreren Gründen ein schmutziger Deal
Aus europäischer Sicht erfüllte der Deal seinen Zweck: Die Zahl der Migranten, die über die Sahara-Route kamen, brach ein, von 100 000 auf 10 000 pro Jahr. Doch es war aus mehreren Gründen ein schmutziger Deal: Weil der ausgetretene Weg nach Europa verschlossen wurde, wichen viele Migranten auf andere Routen durch die Wüste aus. Einige überlebten die Reise nicht. Die nigrischen Sicherheitsbehörden wiederum fingen mitten im Land auch Migranten ab, die sich völlig legal dort bewegten - weil sie als Bürger eines Staats der westafrikanischen Staatengruppe Ecowas eigentlich Reisefreiheit in Niger genossen.
In Niger schließlich trocknete das Gesetz eine ganze Branche aus. Der Transport von Migranten hatte Tausenden Menschen im Land ihren Lebensunterhalt gesichert. Eine regelrechte Industrie aus Fahrern, Schleusern, Übersetzern entstand, die ihr Zentrum in der Wüstenstadt Agadez hatten, dem Tor zur Sahara. Der Großteil dieser Menschen wurde durch das Gesetz arbeitslos.
Abhilfe sollte das Geld aus Brüssel schaffen. Die EU startete Projekte, die etwa in Agadez Schleusern zu Landwirten umschulen sollten. Doch nach Ansicht vieler Kritiker in Niger kamen viel zu wenige Menschen in den Genuss solcher Programme; wo genau das Geld aus Brüssel landete, war häufig unklar. Die Junta in Niamey hob das Gesetz nun mit der Begründung auf, es nehme "keine Rücksicht auf die Interessen Nigers und seiner Bürger". Die Aufhebung gilt auch rückwirkend: Wer auf Basis des Gesetzes verurteilt wurde, soll rehabilitiert werden.
Die EU bedauert die Entscheidung - und fürchtet das Schlimmste
Bei der Europäischen Union in Brüssel sorgte die Nachricht aus Niger für Ernüchterung. "Ich bedauere diese Entscheidung", sagte die für Migrationsfragen zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson, "und ich bin sehr besorgt, was die Konsequenzen betrifft." Bei mehreren Besuchen in Niger habe sie feststellen können, dass das Abkommen aus dem Jahr 2015 vielen Migranten das Leben gerettet habe. Nun rechne sie damit dass "mehr Menschen in der Wüste sterben", aber natürlich auch damit, dass mehr Menschen sich auf den Weg nach Norden und übers Mittelmeer Richtung Europa machten.
Johansson nahm am Dienstag in Brüssel mit ihrer Chefin Ursula von der Leyen an einer Konferenz zur Bildung einer globalen Allianz gegen Schleuser auf. Eine der Botschaften lautete: "Die Kooperation mit Partnerstaaten intensivieren". Zu diesen Staaten zählt Niger offensichtlich nicht. Um die Migration aus der Subsahara übers Mittelmeer einzudämmen, hat die EU-Kommission zuletzt ein Partnerschaftsabkommen mit Tunesien geschlossen. Die Zahl der aus Tunesien in Italien ankommenden Flüchtlinge sei im November tatsächlich um 80 bis 90 Prozent gesunken, sagt Johansson. Dafür würden jedoch wieder mehr Flüchtlinge aus Libyen kommen.
Ein umfassendes Konzept für den Umgang mit der Migration aus Afrika hat die EU nicht. Das Abkommen mit Tunesien ist wegen der dortigen Menschenrechtslage höchst umstritten, ein weiteres Abkommen mit Ägypten ist gerade in Vorbereitung und stößt auf ähnliche Vorbehalte. Im Fall von Niger kommt hinzu, dass die EU über keine Außenpolitik aus einem Guss verfügt. Was Afrika betrifft, gibt häufig Frankreich die Linie vor.
Europa stehe sich in Afrika selbst im Weg, sagt Experte Laessing
Der Sahel-Experte Ulf Laessing, der die Konrad-Adenauer-Stiftung in Mali vertritt, schrieb auf X, vormals Twitter, das "worst case scenario" für die Europäische Union sei eingetreten. Dafür macht er auch die Uneinigkeit Europas gegenüber der Junta in Niger verantwortlich. Während Länder wie Deutschland und Italien sich um ein pragmatisches Verhältnis zur Putschregierung in Niamey bemüht hätten, um den Deal zu retten, habe Frankreich alle Gesprächsanbahnungen abgeblockt.
Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, die über Jahrzehnte militärisch und wirtschaftlich in Niger engagiert war, verkündete im September auf Druck der Junta den Abzug aller ihrer Streitkräfte bis Ende des Jahres. "Es gab eine Bereitschaft der Putschisten, sich mit Europa zu arrangieren", sagt Laessing. "Ob sie jetzt noch da ist, weiß ich nicht."
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Aus Laessings Sicht hätte Europa den Rückweg zur Normalität in der Beziehung mit Niger schon deshalb einschlagen müssen, um dem russischen Einfluss entgegenzuwirken. Mehrere Staaten in Afrika wandten sich zuletzt Moskau zu, unter ihnen Nigers Nachbar Mali, wo ebenfalls eine Putschregierung herrscht, die eng mit Russland kooperiert und sich Wagner-Söldner ins Land holte. Nun bemühe sich Russland "sehr aktiv" um Niger, sagt Laessing, biete Partnerschaften und militärische Zusammenarbeit an - und werde die Putschisten in Zukunft wohl "ermuntern", mehr Migration nach Europa zuzulassen, die Flüchtlinge also als Druckmittel einzusetzen.
Die eingangs geschilderten europäischen Schreckensszenarien - dass Niger sich Russland anschließt und den Flüchtlingsdeal beendet - könnten nicht nur beide wahr werden. Sie könnten sich zu einem Szenario verdichten, das die Regierungen der Europäischen Union gerade jetzt, wo die Migrationsfrage sich erneut zugespitzt hat, endgültig um den Schlaf bringt: eine offene Transitroute in Afrika unter russischer Kontrolle.