Gipfeltreffen in Vilnius:Nato streitet über Beitritt der Ukraine

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Statt mit einer Beitrittszusage kam Kanzler Olaf Scholz mit dem Versprechen weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine nach Vilnius (Foto: ODD ANDERSEN/AFP)

Die USA und Deutschland sperren sich gegen eine Garantie, sie sehen noch Reformbedarf.Präsident Selenskij kritisiert, dass ein Zeitplan für eine Aufnahme seines Landes fehlt.

Von Daniel Brössler und Hubert Wetzel, Vilnius

Am ersten Tag des Nato-Gipfeltreffens in Vilnius ist es zu einem offenen Streit um die künftige Mitgliedschaft der Ukraine in dem westlichen Verteidigungsbündnis gekommen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij kritisierte die in der litauischen Hauptstadt versammelten Staats- und Regierungschefs der Nato am Dienstag in einem Tweet überraschend scharf dafür, dass sie seinem Land weder einen konkreten Zeitplan für eine Beitrittseinladung noch für eine spätere Aufnahme in die Allianz geben wollten. Das sei "absurd", schrieb Selenskij. "Das bedeutet, dass die Möglichkeit offenbleibt, über die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine mit Russland zu verhandeln", kritisierte er. Diese "Unsicherheit" sei gegenüber Moskau ein Signal der Schwäche und erlaube es Russland, den "Terror" gegen die Ukraine fortzusetzen.

Über den Passus in der Abschlusserklärung des Gipfels, der sich mit den künftigen Beziehungen der Nato zur Ukraine befasst, wurde am Dienstag in Vilnius stundenlang hart verhandelt. Selenskij hatte unter den 31 Nato-Regierungen etliche Verbündete, vor allem die baltischen sowie osteuropäische Länder wollten eine möglichst verbindliche Formulierung durchsetzen. Sie fordern, dass die Nato die Ukraine nach einem Ende des Krieges möglichst zügig aufnimmt. Andernfalls, so warnen sie, entstünden wieder riskante "Grauzonen" in Europa. Diese Beitrittszusage sollte sich nach Wunsch der Ukraine-Unterstützer im Kommuniqué des Gipfels widerspiegeln.

Andere Staaten, allen voran die USA und Deutschland, wollten dagegen Formulierungen verhindern, die als eine Art automatische Beitrittsgarantie interpretiert werden konnten. Sie betonen, dass die Ukraine noch großen Reformbedarf habe, bevor sie Nato-Mitglied werden könne. In das Abschlussdokument hatten sie daher die Einschränkung hineingeschrieben, dass die Nato erst dann eine Einladung an die Ukraine für eine Mitgliedschaft "aussprechen kann, wenn alle Bündnispartner zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind".

Mit weiterer militärischer Untersützung darf die Ukraine auf jeden Fall rechnen

Welche Bedingungen damit im Detail gemeint sind, wurde nicht ausbuchstabiert. Das lässt Raum für Interpretationen - und für Verzögerungen. Als Geste an die Ukraine sollte in dem Dokument zwar festgehalten werden, dass bei dem Land auf das förmliche Aufnahmeverfahren der Nato - bekannt als ein sogenannter Membership Action Plan - verzichtet werden könnte, so wie bei der Aufnahme Finnlands und Schwedens. Zudem bekräftigt das Bündnis: "Die Zukunft der Ukraine ist in der Nato." Doch der Verweis auf zu erfüllende "Bedingungen" nimmt diesem Versprechen die Verbindlichkeit.

Statt einer klaren Beitrittsperspektive versprachen die Staats- und Regierungschefs der Nato ihrem Kollegen Selenskij vor allem eines: weitere militärische Unterstützung. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte erstmals die Lieferung von Raketen mit einer Reichweite von bis zu 250 Kilometern an die Ukraine zu. Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz betonte zum Auftakt des Gipfels die deutsche Waffenhilfe für die Ukraine. Deutschland stehe "da vorne ganz dabei", sagte Scholz und kündigte ein neues Hilfspaket im Umfang von knapp 700 Millionen Euro an. Es gehe jetzt darum, "dass wir die Ukraine aktiv bei der Verteidigung ihrer Souveränität und Integrität unterstützen - auch mit den Waffenlieferungen", betonte er.

Unter anderem soll die Ukraine weitere 40 Schützenpanzer vom Typ Marder, 25 Kampfpanzer vom Typ Leopard 1A5 und fünf Bergepanzer aus Industriebeständen sowie zwei Abschussgeräte für Patriot-Flugabwehrraketen der Bundeswehr bekommen.

Scholz bekräftigte auch die Absicht der Bundesregierung, von kommendem Jahr an zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben und damit das in Vilnius erneuerte Nato-Ziel zu erreichen. Deutschland habe hier einen "großen Schritt vorwärtsgemacht". Deutschland werde das Ziel auch nach Aufbrauchen des 100-Milliarden-Sondervermögens für die Bundeswehr erreichen und dies "aus den regulären Haushaltsmitteln weiter gewährleisten können".

Selenskij traf am Dienstag in Vilnius ein. An diesem Mittwoch wird er bei dem Nato-Gipfeltreffen zu Gast sein und an der konstituierenden Sitzung des neuen Nato-Ukraine-Rates teilnehmen. Diesen Rat, der die bisherige Nato-Ukraine-Kommission ersetzt, hat die Allianz eingerichtet, um die politischen und diplomatischen Beziehungen zu Kiew aufzuwerten. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte, die Entscheidungen zum künftigen Verhältnis zwischen dem Bündnis und der Ukraine machten das Treffen in Vilnius zu einem "historischen Nato-Gipfel".

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