Aufnahme in die Nato:Zeitenwende auf schwedisch

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55 000 Männer und Frauen zählt die Armee momentan inklusive Reservisten. Bis 2030 soll sie auf 90 000 Menschen wachsen. Das Bild zeigt eine Soldatin, die vor einer Übung im vergangenen Jahr Tarnschminke aufträgt. (Foto: Jonathan Nackstrand/AFP)

Mit dem Nato-Beitritt geht für das nordischen Land eine Ära zu Ende. Der Abschied von der Neutralität schmerzt dabei womöglich weniger als die Zugeständnisse an die Türkei.

Von Alex Rühle, Stockholm

Was auch immer man davon halten mag, es ist ein historischer Tag für Schweden. Nach 205 Jahren der Bündnisfreiheit tritt das Land der Nato bei. Natürlich, Schweden war auch in den vergangenen Jahren tief eingebunden in internationale Zusammenarbeit. Dieser Schritt ändert dennoch viel, in der Kooperation mit den Nato-Ländern genauso wie in der Selbstwahrnehmung.

In Schweden fragen freilich viele, ob das Land einen zu hohen Preis für das Einlenken des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zahlen muss, der die Nato-Aufnahme blockiert hatte. Bislang hatte Schweden die türkische Regierung immer wieder für den Abbau der demokratischen Strukturen und die Verfolgung politisch Andersdenkender kritisiert, oppositionelle Gruppierungen innerhalb der Türkei unterstützt und vielen Kurden Zuflucht gewährt. Seit dem Nato-Antrag bezeichnet die Regierung in Stockholm die Türkei regelmäßig als Demokratie, das Waffenembargo wurde aufgehoben und die Regierung hat auch alle politische Unterstützung der Kurden aufgekündigt. In einer gemeinsamen Erklärung verpflichtete sich Schweden am Montagabend erneut, der Türkei sowohl in deren Kampf gegen den Terror zu helfen als auch bei ihren Bemühungen, die EU-Beitrittsgespräche wieder in Gang zu bringen. Ministerpräsiden Ulf Kristersson sagte beim Gespräch mit Erdoğan in Vilnius außerdem zu, dass man sich für Visa-Liberalisierungen einsetzen wolle.

Mit einem Handschlag besiegeln der türkische Präsident und der schwedische Ministerpräsident (rechts) am Montagabend in Vilnius ihre Einigung. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der vermittelt hatte, schaut zufrieden. (Foto: Filip Singer/WPA Pool/Getty Images)

Im Zuge des Nato-Antrags ist auch eine Debatte um die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit entstanden, die in Schweden weiter gefasst ist als in den meisten anderen Ländern. Erdoğan hatte mehrfach gesagt, solange man in Schweden Korane verbrennen dürfe, werde er seine Zusage zum Nato-Beitritt verweigern. Als ein schwedisch-dänischer Rechtsextremer 2022 in schwedischen Migrantenvierteln Korane verbrannte, verteidigte ihn Ebba Busch, die Vorsitzende der Christdemokraten: "Es sollte möglich sein, sowohl die Bibel als auch den Koran in allen Teilen Schwedens zu verbrennen." Auch Kristersson, Vorsitzender der Moderaten, sprach sich damals explizit gegen ein Verbrennungsverbot aus: "Wir sollten stattdessen die starke Meinungs- und Demonstrationsfreiheit schützen, die wir heute haben." Als Ministerpräsident verurteilt Kristersson die Verbrennungen nun "aufs Schärfste", Busch nannte die Verbrennungen "verwerflich", und Justizminister Gunnar Strömmer prüft, ob man den Meinungsfreiheitsparagrafen ändern kann.

In einem sind sich die Kommentatoren nun aber einig. Mit dem Nato-Beitritt geht eine Ära zu Ende. Schweden bezeichnete sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg selbst zuweilen als "moralische Großmacht". Wie es der Schriftsteller Richard Swartz mal ausdrückte: "Mein Land war gegen Militarismus, Wettrüsten, Atomwaffen und für jedwede Abrüstung, alles mit einem unausgesprochen pazifistischen Unterton. Die Nato war - im Prinzip - nicht besser als der Warschauer Pakt. Mit keinem der beiden wollten wir etwas zu tun haben. Bestenfalls würden wir uns an ,friedenssichernden' Militäreinsätzen unter Führung der UN beteiligen."

Gleichzeitig gab Schweden in der Zeit des Kalten Krieges über viele Jahre mehr als drei Prozent seines Bruttosozialprodukts für Rüstung aus und exportierte weltweit enorm viele Waffen. Es gab die allgemeine Wehrpflicht, Kriegsdienstverweigerung war so gut wie unbekannt. Der potenzielle Feind war dabei stets klar: Kein anderes Land hat so viele Kriege gegen Russland geführt wie Schweden. 1809 hat das Land ein Drittel seiner Landmasse und ein Viertel der Bevölkerung verloren, als Zar Alexander I. das heutige Finnland eroberte.

Wie in anderen westlichen Ländern auch wurde dann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Armee stark verkleinert, der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt sank von 2,6 Prozent im Jahr 1990/91 auf ein Prozent im Jahr 2017. Die Wehrpflicht wurde 2010 abgeschafft, allerdings beschloss der Reichstag bereits sieben Jahre später, sie teilweise wiedereinzuführen. Es fehlt momentan vor allem an Personal, inklusive Reservisten umfasst die Armee momentan gerade mal 55 000 Männer und Frauen. Bis 2030 soll sie auf 90 000 Menschen anwachsen. Das Zwei-Prozent-Verteidigungsausgabenziel der Nato will die Regierung aber schon 2026 erreichen.

Das Material der Armee ist modern

Kjell Engelbrekt, Professor für Politikwissenschaft und Dekan der Verteidigungsakademie in Stockholm, sagt im Gespräch mit der SZ, die Armee bringe "einige der weltweit modernsten U-Boote und Kampfflugzeuge mit, die überhaupt auf dem Markt sind. Dasselbe gilt für Artillerie, Kampffahrzeuge, Panzer- und Schiffsabwehrwaffen." Die Gripen-Kampfjets stammen aus eigener Produktion, die U-Boote sind ideal ausgelegt für die flachen Gewässer der Ostsee.

Der wahrscheinlich wichtigste Beitrag ist aber die Lage in der Mitte Skandinaviens, nah am Baltikum: Finnland fühlte sich geopolitisch isoliert, war es doch nur über Nordnorwegen auf dem Landweg an die Nato angebunden. Gotland ist die zentrale Insel in der Ostsee, Transportwege auch in die baltischen Länder werden deutlich kürzer. Die Suwałki-Lücke, der schmale Korridor an der polnisch-litauischen Grenze zwischen Belarus im Osten und dem russischen Kaliningrad im Westen, galt bislang als Achillesferse der Nato. Jetzt sin diese Länder militärlogistisch auch von Schweden und Finnland aus gut erreichbar.

(Foto: Karte: saru/Mapcreator.io)

Was mittlerweile gern vergessen wird: Noch im November 2021 hatte der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Hultqvist einen potenziellen Nato-Beitritt kategorisch abgelehnt: "Ich werde mich auf keinen Fall, solange ich Verteidigungsminister bin, an einem solchen Prozess beteiligen. Das kann ich jedem garantieren." Selbst als Russland die Ukraine überfallen hatte, dachte die damalige Ministerpräsidentin Magdalena Andersson zunächst, man müsse den Neutralitätskurs beibehalten: "Jetzt ist nicht die Zeit zum Wackeln", sagte sie kurz nach Kriegsbeginn. Die schwedische Regierung wollte damals die finnisch-schwedische Militärallianz stärken.

Wenige Wochen später signalisierten aber die benachbarten Finnen, dass sie einen Nato-Antrag stellen würden, notfalls auch allein. Am 12. Mai 2022 sagte derselbe Peter Hultqvist dann: "Wir können nicht das einzige Land in den nordischen Ländern sein, das nicht beteiligt ist. Wir werden dann nicht in der Lage sein, Teil einer echten Verteidigungsplanung zu sein." Kurz darauf reichten Schweden und Finnland gemeinsam ihre Anträge in Brüssel ein.

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