Europäische Union:Die hässliche Baustelle zuerst

Lesezeit: 3 min

"Menschenverachtendes" Treiben des Autokraten Alexander Lukaschenko nannte Nancy Faeser das Schleusen von Migranten an die Grenze von Belarus zu Polen. Kurden aus dem Irak bei Narewka. (Foto: Wojtek Radwanski/AFP)

Bundesinnenministerin Nancy Faeser absolviert ihren Antrittsbesuch in Brüssel. Dort stellt sie sich gleich den großen Streitthemen Migration und Grenzpolitik.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Am Donnerstag um 8.38 Uhr betrat die neue deutsche Innenministerin Nancy Faeser den roten Teppich im Brüsseler Europa-Gebäude. Den Teppich hatte man ihr nicht ausgerollt, der ist fest installiert in der Heimstatt des Europäischen Rates. Auf roten Teppichen wandeln Vertreterinnen und Vertreter der 27 EU-Regierungen hier durch die politischen Baustellen Europas, und Nancy Faeser, bis Mittwoch noch Landes- und Fraktionsvorsitzende der hessischen SPD, arbeitet zweifellos auf der hässlichsten Baustelle überhaupt: Migration.

Zur Tagung des Rates für Justiz und Inneres führte die erste Dienstreise der Ministerin, eine mutige Wahl, schließlich standen auch Beratungen über die Belarus-Krise auf der Agenda - und damit das deutsche Verhältnis zu Polen. Faesers erster "Doorstep", wie man politische Wortspenden an der "Haustür" nennt, geriet gleich zu einem wuchtigen Auftritt.

Migration
:Erfroren im Wald

Mindestens 14 Menschen sind bereits gestorben, doch viele Migranten harren immer noch im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen aus. Helfer fragen nun: Was unternimmt die EU?

Von Florian Hassel

Faeser würdigte die Leistung der EU, die dem "menschenverachtenden" Treiben des Autokraten Alexander Lukaschenko gemeinsam entgegentrete. Sie mahnte jedoch, es müssten "rechtliche Standards" eingehalten werden im Umgang mit den Menschen, die Lukaschenko an die Grenze schickt. Deshalb sei es wünschenswert, dass die europäische Grenzschutzagentur Frontex und auch Hilfsorganisationen Zugang zur Grenze erhalten. Das ist für Brüsseler Verhältnisse eine deutliche Kritik an der polnischen Regierung.

Die neue Bundesinnenministerin mit der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson (rechts) am Donnerstag in Brüssel. (Foto: JOHN THYS/AFP)

Mit allen diplomatischen Mitteln bis hin zu Sanktionsdrohungen ist es der EU gelungen, die Reisen von Migranten nach Belarus einzudämmen. Es gibt jedoch etliche Regierungen, die den Polen Dankbarkeit zeigen dafür, wie sie die Grenze abriegeln. Dass dieses Vorgehen jenseits der EU-Legalität ist, nimmt man billigend in Kauf. Auch Horst Seehofer hatte Verständnis gezeigt.

Nancy Faesers Vorgänger habe "hervorragende Arbeit geleistet", sagte der slowenische Innenminister Aleš Hojs am Donnerstag. Im Rahmen der slowenischen Ratspräsidentschaft war er sozusagen Gastgeber Nancy Faesers, das hinderte ihn nicht daran, in Sarkasmus zu flüchten, als er auf die "moderne" Migrationspolitik der Ampelkoalition angesprochen wurde. Was denn "modern" sei, fragte er zurück: Die Migranten einfach so in die EU lassen?

Die Debatten um die deutsche Flüchtlingspolitik flammen wieder auf

Mit dem Amtsantritt der Regierung Scholz flammen die Debatten um die deutsche Flüchtlingspolitik wieder auf. Viele halten sie für die Ursache aller Flüchtlingsprobleme in der EU, weil sie durch ihre Menschenfreundlichkeit Migranten anlocke. Die neue Innenministerin muss nun laut Koalitionsvertrag auf eine "faire Verteilung von Verantwortung und Zuständigkeit" bei der Aufnahme von Migranten hinwirken, auf "bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten". Die "illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen" sollen beendet werden. Das alles steht in krassem Widerspruch zur Realität.

Bezeichnend erscheint die Haltung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu Kroatien. Von dort wurden skandalöse Fälle von Pushbacks berichtet, Macron jedoch lobte die Regierung, denn sie habe gezeigt, dass sie die Außengrenzen der EU verteidigen könne. Deshalb sei das Land reif für die Aufnahme in den Schengen-Raum, die europäische Zone für freien, uneingeschränkten Personenverkehr. Der Rat fasste am Donnerstag den entsprechenden Beschluss einhellig.

Nancy Faeser kündigte an, sie wolle sich eng mit ihrem französischen Kollegen Gérald Darmanin abstimmen. Es ist kaum anzunehmen, dass sich Paris für migrationspolitische Ziele der Ampelkoalition begeistern lässt, etwa für eine "Koalition von aufnahmebereiten Mitgliedstaaten". Das Thema Migration beherrscht den Wahlkampf, Macron wird sich keine Blöße geben wollen. In ihrer Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 scheint die französische Regierung jedoch einen neuen Anlauf nehmen zu wollen, den europäischen Migrationspakt zu verabschieden.

Dieses Papier, von der EU-Kommission vor mehr als einem Jahr vorgelegt, enthält gemeinsame Regeln für den Umgang mit dem Thema Migration schlechthin. Es grenzte an ein politisches Wunder, würde es ausgerechnet jetzt gelingen, deutsche Vorstellungen von Humanität und polnische Vorstellungen von nationaler Souveränität unter einen Hut zu bekommen. Der Druck jedoch wächst. Weil die 27 nicht mit einer Stimme sprechen, fiel es Lukaschenko leicht, die EU aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Am Donnerstag debattierte man über den Vorschlag der Kommission, an den Grenzen von Polen, Litauen und Lettland zu Belarus die Rechte von Asylbewerbern vorübergehend einzuschränken. Über eine gemeinsame Position wurde nichts bekannt. Vor einigen Wochen hat die Kommission den drei Ländern eine Aufstockung der Mittel für das Grenzmanagement bewilligt, aber die Frage, ob die EU auch Mauern und Zäune bezahlen soll, schwelt weiter. Beim bisher letzten EU-Gipfel waren etwa 20 der 27 Staats- und Regierungschefs dafür, oder sie hatten zumindest nichts dagegen.

15 EU-Staaten wollen 40 000 weitere Afghanen aufnehmen

Immerhin eine gute Nachricht drang aus der Runde mit Ministerin Faeser am Donnerstagabend nach draußen: Angesichts der dramatischen Lage nach der Machtübernahme der Taliban wollen offenbar Deutschland und 14 weitere EU-Staaten zusätzlich zu bisherigen Kontingenten 40 000 besonders schutzbedürftige Menschen aus Afghanistan aufnehmen. Einem Schreiben von Migrationskommissarin Ylva Johansson zufolge ist allein Deutschland bereit, 25 000 zusätzliche Menschen aus Afghanistan aufzunehmen.

Am nächsten Donnerstag geht das Ringen um die europäische Migrationspolitik weiter. Dann wird Olaf Scholz über den roten Teppich schreiten zu seinem ersten europäischen Gipfel als Kanzler.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusErbil, Minsk - und kein Weg zurück
:Tod im Niemandsland

Gaylan Dler Ismail war einer der vielen jungen Menschen aus dem Irak, die über Belarus nach Deutschland wollten. Jetzt ist er tot. Zurück bleibt eine Familie, die mehr als einen Sohn verloren hat.

Von Thore Schröder

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: