Nahostkonflikt:Droht der Nahostkonflikt zu eskalieren?

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Ein Poster mit dem Bild von Hassan Nasrallah, Führer der libanesischen Schiiten-Organisation Hisbollah, in Beirut. (Foto: Anwar Amro /AFP)

Saleh al-Arouri ist der ranghöchste Hamas-Anführer, der seit dem 7. Oktober getötet wurde. Die Netanjahu-Regierung nimmt mit der mutmaßlich von ihr angeordneten Aktion in Beirut in Kauf, dass der Konflikt weiter eskaliert. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu dem Vorfall.

Von Oliver Klasen

Droht der Nahostkonflikt jetzt vollends zu eskalieren? Wird die israelische Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die außen- und innenpolitisch ohnehin unter gewaltigem Druck steht, immer tiefer in einen Regionalkrieg hineingezogen, dessen Ende sie kaum kontrollieren kann? Vordergründig sieht das, was am Dienstagabend in einem Vorort der libanesischen Hauptstadt Beirut passiert ist, nach einem Erfolg für Netanjahu aus. Einer der wichtigsten Hamas-Führer ist tot, eliminiert durch einen Drohnenangriff. Doch die Vergeltungsdrohungen von Israels Feinden - der Hamas und der mit ihr verbündeten Hisbollah in Libanon - lassen nicht auf sich warten. Was kommt jetzt? Ein Raketenhagel aus dem Norden auf israelische Städte? Oder bleibt die Situation an Israels Nordfront beherrschbar, so wie in den vergangenen Monaten? Ein Überblick über die wichtigsten Entwicklungen.

Was ist passiert?

In der libanesischen Stadt Dahieh hat es am Dienstagabend eine Explosion gegeben, sechs Menschen kamen dabei ums Leben. Ort des Geschehens war ein Vorort südlich der Hauptstadt Beirut, in dem die mit Israel verfeindete Hisbollah-Miliz besonders stark vertreten ist. Unter den Toten ist auch ein prominenter Hamas-Führer: Es handelt sich um Saleh al-Arouri. Er ist Vizechef des Politbüros der Hamas, des höchsten politischen Entscheidungsgremiums der Terrorgruppe.

Vertreter von Hamas und Hisbollah bestätigten noch am Dienstag den Tod al-Arouris. Die staatliche libanesische Nachrichtenagentur NNA sprach von einem Drohnenangriff. Neben al-Arouri wurden auch zwei weitere wichtige Kommandeure getötet, die beide den Kassam-Brigaden angehört haben, dem militärischen Arm der Hamas.

Wer ist der getötete Hamas-Führer?

Al-Arouri ist der bislang ranghöchste Hamas-Anführer, der seit dem 7. Oktober getötet wurde - jenem Tag, an dem die Hamas beim Überfall auf Israel 1200 Menschen ermordete und damit den Gaza-Krieg auslöste. Der 57-Jährige wird von Israel bereits seit Jahren gesucht und gejagt. Er ist einer der Gründer der Kassam-Brigaden, die den Überfall auf Israel geplant haben. Außerdem gilt al-Arouri als derjenige, der im besetzten Westjordanland den Widerstand gegen Israel militärisch angeführt hat. Israels Regierung wirft ihm vor, an mehreren Terroranschlägen beteiligt gewesen zu sein. Er saß in Israel mehrfach im Gefängnis, kam im März 2010 aber bei der Vorbereitung eines größeren Gefangenaustausches zur Befreiung des von der Hamas entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit frei. Al-Arouri soll exzellent vernetzt gewesen sein mit anderen Feinden Israels, sowohl mit der Hisbollah in Libanon, wo er sich zuletzt offenbar versteckt hielt, als auch mit hochrangigen Vertretern in Iran.

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Was ist der Hintergrund des Vorfalls?

Israels Kriegsziel ist es, die Strukturen der Hamas völlig zu zerstören und der Terrorgruppe dauerhaft die Möglichkeit zu rauben, Israel anzugreifen. Auch wenn es zunehmend Kritik daran gibt, dass die Regierung in Jerusalem keinen konkreten Plan zu haben scheint, wie sie aus diesem Krieg herauskommt oder zumindest öffentlich nichts dazu sagt, bleibt Netanjahu bei seiner Linie. Sie sieht neben der großangelegten Bodenoffensive im Gazastreifen auch gezielte Tötungen hochrangiger Hamas-Funktionäre vor. Solche Tötungen praktiziert Israel bereits seit Jahren. Libanesische Medien berichteten bereits im August vergangenen Jahres, dass Israels Regierung al-Arouris Tötung plane. Nach dem 7. Oktober befahl Netanjahu persönlich die Liquidierung aller Hamas-Führer, unabhängig davon, ob sie sich im Gazastreifen oder - wie die meisten der wirklich hochrangigen Chefs - im Ausland aufhalten.

Wie sind die Reaktionen von Hamas und Hisbollah?

Beide Organisationen, die im Hass auf Israel miteinander verbündet sind, melden sich sehr rasch zu Wort. Hamas-Chef Ismail Hanija spricht von einem terroristischen Akt, der die Souveränität Libanons verletze. Ein Hisbollah-Vertreter in Libanon sagt, die Tötung al-Arouris sei ein "Verbrechen", dem eine "Antwort" folgen werde; die Kämpfer der Miliz seien fest entschlossen, Vergeltung zu üben.

Auch der Chef der Hisbollah, Hassan Nasrallah, hat sich eingeschaltet, wie die Zeitung Times of Israel berichtet. Er schwor Rache gegen jede Art von Angriffen auf libanesischem Gebiet. Mit Spannung wird eine bereits seit Langem geplante Rede Nasrallahs am Mittwochabend erwartet. Sie könnte Hinweise enthalten, wie kampfeswillig die Hisbollah-Miliz tatsächlich ist.

Die iranische Regierung, die beide radikal-islamischen Gruppierungen unterstützt, erklärte, der Tod al-Arouris werde den Kampf gegen die "zionistischen Besatzer" nicht nur im Gazastreifen, sondern in der ganzen Region neu entfachen.

Was sagt die israelische Regierung?

Bei internationalen Beobachtern besteht kaum ein Zweifel, dass es sich bei dem Vorfall in Beirut um eine gezielte, von Israel veranlasste Tötungsaktion handelt. Explizit dazu erklärt sich die Regierung in Jerusalem nicht. Doch noch am Dienstagabend meldet sich Mark Regev im Interview mit einem TV-Sender zu Wort, ein enger Berater aus Netanjahus Büro. Die Intention seiner Äußerungen: nichts konkret zur Urheberschaft des Attentats sagen und gleichzeitig einen Deeskalationsversuch unternehmen. "Wer auch immer es getan hat, es muss klar sein - dies war kein Angriff auf den libanesischen Staat. Es war ein chirurgischer Schlag gegen die Hamas-Führung." Israels Führung habe in der Vergangenheit führende, an der Ermordung israelischer Zivilisten beteiligte Terroristen als legitime Ziele benannt. Dies sei aber ein genereller Grundsatz und habe nichts mit der aktuellen Situation zu tun.

Am Tag nach der Liquidierung des Hamas-Führers vermittelt Israel den Eindruck, dass eine mögliche Eskalation offenbar eingepreist ist. Darauf deuten jedenfalls Äußerungen von Militärsprecher Daniel Hagari hin. Man sei in der Lage, auf jedwede Entwicklung zu reagieren und könne mit allen Szenarien umgehen.

Was droht nun im schlimmsten Fall?

Gespannt, aber beherrschbar - so war bisher die Situation zwischen Israels Armee und der Hisbollah. Die Konfrontationen beschränkten sich auf die Grenzregion zwischen Israel und Libanon. Die Hisbollah feuerte Raketen auf israelisches Gebiet, Israel feuerte zurück und nahm Stellungen der Hisbollah ins Visier. Beide Seiten demonstrierten Stärke, waren jedoch gleichermaßen bedacht, den Konflikt nicht ausufern zu lassen. Israels Regierung, weil sie mit dem Gaza-Krieg genug zu tun hat und nicht ohne Not eine zweite Front eröffnen wollte. Die Hisbollah, weil sie ebenfalls genug interne Probleme hat.

Doch jetzt könnte es zu einer Eskalationsspirale kommen. Die Hisbollah könnte sich in einer Lage gefangen sehen, in der ein symbolischer Beistand für die Waffenbrüder im Gazastreifen nicht mehr ausreicht. Was so gefährlich ist daran: Das Raketenarsenal der Hisbollah ist um ein Vielfaches größer als das der Hamas. Über mehr als 150 000 Raketen soll die libanesische Miliz verfügen. Darunter solche mit großer Reichweite, die jeden Ort in Israel treffen können. Nicht auszudenken, wenn sich jetzt auch noch Iran einschaltet.

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