Migration:Papst wirbt für humanitäre Korridore nach Europa

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Papst Franziskus beim Treffen mit Migrantenfamilien in der Audienzhalle des Vatikan am Samstag. (Foto: REMO CASILLI/REUTERS)

Es gibt eine Alternative zur gefährlichen Flucht übers Mittelmeer, aber bisher beteiligen sich nur wenige Staaten. Vor allem Italien engagiert sich - Deutschland nicht.

Von Marc Beise, Vatikanstadt

Die große Veranstaltung des Papstes am Samstag im Vatikan mit Migrantinnen und Migranten aus dem Süden, obschon seit langem geplant, hätte jetzt nicht passender terminiert sein können nach den jüngsten Bootsunglücken im Mittelmeer, bei denen mehr als 100 Menschen, darunter viele Kinder, ums Leben gekommen sind, und vor der rasanten Zunahme der gefährlichen Überfahrten, die in den kommenden Monaten erwartet wird. Und inmitten einer heftigen Diskussion in Italien, wie man auf die wieder drängendere Herausforderung der Migration reagieren soll.

Angeblich harren in Nordafrika bis zu 700 000 Menschen der Überfahrt nach Europa, und es werden dafür eine Reihe von Gründen genannt: das für die Jahreszeit meistens ungewöhnlich milde Wetter ebenso wie die schwierige wirtschaftliche Lage in Tunesien, wo viele Menschen auf die Chance zur Überfahrt warten. Eine zunehmende Zahl von aus der Subsahara nachrückenden Flüchtlingen und angeblich sogar aktive Unterstützung der Schlepper durch die russische Söldner-Gruppe Wagner. Und nicht zuletzt die wachsende Nachfrage der Route aus dem Osten des Mittelmeers, um die Südspitze Griechenlands herum; auf diesem Weg war das Boot gekommen, das Ende Februar vor der Küste Kalabriens zerschellte.

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Die Rechtsregierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat das Thema bisher erkennbar nicht in den Griff bekommen. Erst ließ sie Anteilnahme vermissen und brandmarkte teilweise die Opfer sogar als Täter: Wären sie doch zu Hause geblieben! Spät erst, in der vergangenen Woche, hat Meloni in ihrem Regierungssitz Palazzo Chigi, stellvertretend 30 Überlebende empfangen, die das Militär aus Kalabrien einzufliegen hatte. Das Treffen fand streng abgeschirmt statt, mittlerweile dringen Informationen an die Öffentlichkeit.

Die Ministerpräsidentin sei, wird berichtet, erkennbar unsicher gewesen und habe es an Empathie fehlen lassen. Sie habe die Frage gestellt, ob sich die Menschen der Risiken der Überfahrt denn nicht bewusst gewesen seien. "Aber wir mussten doch vor den Taliban fliehen", habe sie darauf beispielsweise zu hören bekommen. Da war es wieder, das Unverständnis der Regierenden darüber, dass Menschen so verzweifelt sind, dass sie alle Gefahren auf sich nehmen.

Meloni beharrt darauf, dass es zur Verhinderung weiterer Katastrophen vor allem gilt, den Schleppern das Handwerk zu legen, die Strafen dafür sollen massiv verschärft werden. Und viele ihrer Anhänger würden ergänzen: Und es geht darum, die Reise nach Europa unattraktiv zu machen - auch durch Härte gegenüber den Bootsflüchtlingen und ihren Rettern; auch hier gab es Verschärfungen.

Gerettete berichten über ihre Flucht

Auf eine moralisch ansprechendere Alternative wies jetzt der Papst hin, indem er eine Initiative ins Rampenlicht holte, die die Flüchtlinge von der gefährlichen Reise übers Mittelmeer abhalten will, ohne sie ihrem Schicksal zu überlassen. Das Projekt geht wesentlich auf die Gemeinschaft von Sant' Egidio zurück, eine weltweit tätige Laienorganisation mit Hauptsitz in Rom, die auch im Vatikan hohes Ansehen genießt. Die große Audienzhalle des Papstes war am Samstag mit vielen Tausend Gästen bis auf den letzten Platz gefüllt, als Franziskus in einer bewegenden Zeremonie Geflüchteten und ihren Helfern Dank aussprach. Einige Gerettete schilderten ihre Fluchtgeschichten. Auch Helfer sprachen über ihre Erfahrungen.

Die Gemeinschaft von Sant' Egidio hat gemeinsam mit der italienischen Caritas, evangelischen Christen in Italien und mehreren europäischen Regierungen einen Weg gefunden, der heißt: humanitäre Korridore. So stand es in Italienisch auf den Badges der Veranstaltung: Corridoi Umanitari, und darunter auf Englisch, Französisch, Arabisch - aber nicht auf Deutsch, denn die Bundesrepublik beteiligt sich bisher nicht an diesem Programm.

Das Projekt "Humanitäre Korridore" wurde 2015 erdacht

Der Papst betonte, dass es sich bei der Flucht über sichere Korridore um eine wichtige Alternative zum oft tödlichen Weg über das Meer handle. Schätzungen zufolge sind seit 1990 mehr als 60 000 Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen, im Mittelmeer umgekommen. Das Projekt "Humanitäre Korridore" wurde im Jahr 2015 erdacht, nach schweren Schiffsunglücken vor Lampedusa und im Kanal von Sizilien mit Hunderten Toten. Es knüpft an eine wenig bekannte Vorschrift des europäischen Rechts an. Artikel 25 der Verordnung Nr. 810/2009 vom 13. Juli 2009 gibt den EU-Staaten die Möglichkeit, humanitäre Visa mit begrenztem Geltungsbereich auszustellen, die nur für ein einziges Land gültig sind.

Am 15. Dezember 2015 unterzeichnete die Gemeinschaft Sant' Egidio mit den evangelischen Kirchen Italiens und im Einvernehmen mit dem Innen- und dem Außenministerium das Protokoll zur Eröffnung der ersten humanitären Korridore. 1000 Visa für ebenso viele syrische Flüchtlinge aus Lagern im Libanon wurden bereitgestellt, später folgten weitere Abkommen. Insgesamt haben nach Auskunft der Veranstalter bisher 6800 Menschen auf diesem Weg Europa erreicht, unter ihnen zahlreiche Kinder. Die meisten von ihnen kamen nach Italien, aber auch Frankreich, Belgien, Andorra und die Republik San Marino beteiligen sich.

Sant' Egidio ist auch in Deutschland aktiv

Der Versuch, auch in Deutschland Gehör zu finden, war bisher nach Auskunft der Gemeinschaft nicht erfolgreich. Dabei ist Sant' Egidio auch in Deutschland aktiv und hat beste Beziehungen zu beiden christlichen Kirchen und auch zum Judentum. Eine wesentliche Voraussetzung des Programms wäre also leicht zu erfüllen: das Mitwirken der Zivilgesellschaft. Denn die ist zwingend erforderlich.

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Nachdem ein Staat eine bestimmte Anzahl von Visen zur Verfügung gestellt hat, wählen die Mitarbeiter von Sant' Egidio vor Ort zum Beispiel im Libanon Flüchtlinge aus. Dabei handelt es sich keineswegs nur um Christen, meistens um Muslime, die besonders schutzbedürftig sind: Mütter, die ihren Mann verloren haben, mit vielen Kindern, Menschen, die Gewalt erlitten haben, Familien mit kranken Kindern und behinderte Menschen. Sie erhalten Visa und werden auf normalen Linienflügen nach Italien gebracht, wo sie in Zusammenarbeit mit Kirchen, Vereinen, Gruppen und Privatpersonen über das ganze Land verteilt untergebracht werden. Sie erhalten Sprachunterricht, Schulunterricht und andere Hilfe und werden in die Strukturen des Gastlandes integriert.

Zwar haben es die humanitären Korridore bisher nur geschafft, eine kleine Anzahl von Flüchtlingen derart zu versorgen, verglichen mit den vielen, die weiterhin mit Booten ankommen. Bei Sant' Egidio ist man aber überzeugt: Würde dieses Projekt der Zivilgesellschaft in Europa im großen Stil staatlich flankiert und in immer mehr Ländern Anwendung finden, könnte eine viel größere Zahl von Menschen gerettet werden. "Humanitäre Korridore sind ein Weg, um die Tragödien und die Gefahren des Menschenhandels zu vermeiden", so der Papst: "Es sind aber noch große Anstrengungen erforderlich, dieses Modell auszuweiten. Dabei liegt eine sichere, geordnete, regelmäßige und nachhaltige Migration im Interesse aller Länder."

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