Migration:Faeser prüft das "Ruanda-Modell"

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"Weitere Optimierungen im Bereich der Steuerung von Migration": Innenministerin Nancy Faeser berät mit Experten über die Ruanda-Frage. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Die Bundesinnenministerin will wissen, ob Asylverfahren auch in Drittstaaten jenseits der EU abgewickelt werden könnten - Experten sehen eine Menge kontroverser Fragen.

Von Markus Balser und Constanze von Bullion, Berlin

Es sollte ein Befreiungsschlag werden, ein Ventil für täglich wachsenden Druck. Als im vergangenen Herbst die Flüchtlingszahlen stiegen wie lange nicht in Deutschland, kündigte Kanzler Olaf Scholz (SPD) nicht nur Abschiebungen in großem Stil an. Er versprach Ländern und Kommunen auch, ein umstrittenes Vorhaben zu prüfen. Asylverfahren könnten künftig, so die Überlegung, statt in Deutschland in Drittstaaten außerhalb der EU stattfinden.

Eine Idee ist das, die als "Ruanda-Modell" in Großbritannien für Ärger sorgt. Die britische Regierung will Asylbewerber, die irregulär eingereist sind, ohne Prüfung von Fluchtgründen abschieben, egal, woher sie stammen. So wünschen es die Befürworter auch für die EU. Das Asylverfahren soll dann außerhalb der Union, zum Beispiel in Ruanda, abgewickelt werden. Die Botschaft an Schutzsuchende: Begebt euch gar nicht erst auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer - sie lohnt sich nicht. Denn jeder Geflüchtete würde dann riskieren, sofort wieder außer Landes gebracht zu werden, womöglich ins Zentrum Afrikas.

Die Pläne der britischen Regierung stoppte das höchste Gericht

In Deutschland wurde der Vorschlag zunächst belächelt. Angesichts der überhitzten Migrationsdebatte aber sagte Scholz eine Prüfung des Drittstaatenmodells zu, das vor allem die Union fordert. Am Donnerstag wurde im Bundesinnenministerium nun zum ersten Mal hinter verschlossenen Türen mit acht Fachleuten beraten, ob die Idee in Deutschland umsetzbar wäre. Die Regierung bekenne sich zu ihrer humanitären Verantwortung, habe aber auch die Aufgabe, "weitere Optimierungen im Bereich der Steuerung von Migration in Betracht zu ziehen", hieß es in der Einladung.

Zwar hat das höchste Gericht in London die Pläne der britischen Regierung vorerst gestoppt. Zwar melden Menschenrechtsvertreter ernste Zweifel an. Doch gibt es durchaus auch Befürworter des Modells. "Ich halte Asylverfahren in Drittstaaten für den wichtigsten Baustein eines Paradigmenwechsels in der Asylpolitik", sagte Gerald Knaus der Süddeutschen Zeitung. Der Soziologe und Migrationsforscher, der als Ideengeber des EU-Türkei-Deals gilt, nahm am Donnerstag am Gespräch im Innenministerium teil. Wenn die Bundesregierung irreguläre Migration und das Sterben auf dem Mittelmeer reduzieren wolle, müsse sie den Plan einer Drittstaatenlösung ernsthaft verfolgen, sagt Knaus. "Andere Maßnahmen, von Bezahlkarten bis Binnenkontrollen, werden irreguläre Migration nicht ernsthaft reduzieren."

Befürwortern des Modells schwebt ein europäisches Pilotprojekt vor. Wer ab einem Stichtag irregulär übers Mittelmeer kommt, könnte zur Prüfung des Asylbegehrens in einen sicheren Drittstaat geschickt werden. "Das würde viele von der gefährlichen Flucht von Afrika auf die Kanaren, oder aus der Türkei nach Griechenland oder aus Nordafrika nach Italien abhalten", glaubt Knaus. Im Unterschied zum rechtlich angreifbaren britischen Modell sollten nicht Länder wie Ruanda die Asylverfahren ausführen, sondern etwa das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Partnerländer könnten laut Knaus Marokko, Senegal, die Türkei und Ruanda sein. Der Forscher mahnt zur Eile, die Flüchtlingszahlen könnten bald wieder steigen.

Faeser hatte die Idee eigentlich schon verworfen, die Grünen sind skeptisch

Schon die Prüfung des Vorhabens birgt einigen Sprengstoff für die Regierungskoalition, und wohin der mehrstufige Beratungsprozess führt, ist völlig offen. Innenministerin Faeser hatte der Idee eigentlich schon eine öffentliche Absage erteilt. Die Grünen sehen die Pläne mindestens so skeptisch. Man prüfe, sagte Grünen-Chef Omid Nouripour im SZ-Interview. "Aber nicht erst das Urteil aus Großbritannien lässt mich schwer daran zweifeln, ob solche Verfahren machbar sind."

Vergleichsweise kritisch, wenn auch nicht grundsätzlich ablehnend, betrachtet Daniel Thym die Sache. Der Konstanzer Rechtswissenschaftler forscht zum deutschen und europäischen Asylrecht und gehörte am Donnerstag ebenfalls zu Faesers Beraterrunde. Das Drittstaatenmodell hält Thym theoretisch für machbar, in der Praxis aber für schwer umsetzbar. "Rechtlich zulässig ist es, aber es kommt aufs Kleingedruckte an", sagte er der SZ. "Da stellen sich aus meiner Sicht tausend rechtliche und administrative Fragen."

Auf welcher Rechtsgrundlage sollen solche Rückführungen eigentlich beschlossen werden? Was muss vor einer Überstellung von Migranten in ein Drittland auf europäischem Boden passiert sein? Welche Drittstaaten sind überhaupt sicher und rechtlich unbedenklich? Und was passiert mit Menschen, bei denen sich herausstellt, dass ihr Schutzbegehren berechtigt ist?

Anwendbar wäre das Modell höchstens am Rande der EU

"Es ist legitim, dass die Politik sich Gedanken macht, wie sie anders handeln kann", sagt Thym. Aber so zu tun, als brauche es nur etwas guten Willen und eine simple Lösung, greife möglicherweise zu kurz. Denn es gilt die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Niemand darf in ein Land geschickt werden, in dem ihm Gefahr für Leib und Leben droht. Hat eine Person außerdem schon den Boden der EU betreten, muss ihr Asylbegehren auch dort geprüft werden. Denkbar wäre die Drittstaatenlösung also bestenfalls am Rand der EU, etwa wenn Geflüchtete sich noch auf hoher See befinden.

Im Binnenland Deutschland sieht die Sache anders aus. "Wir dürfen in Deutschland Asylsuchende überhaupt nicht in Haft nehmen", sagt Thym. Und so lange jemand klage, dürfe er nicht in ein anderes Land überstellt werden. Erfahrungsgemäß kann das Jahre dauern.

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Ungeklärt ist auch, ob sich das Drittstaatenmodell mit Plänen aus Brüssel vereinbaren ließe. Nach deutschem und europäischem Recht sei die Überstellung in Drittstaaten grundsätzlich möglich, sagt Rechtswissenschaftler Thym. Er weist allerdings darauf hin, dass bei den jüngsten Verhandlungen zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf deutschen Druck ein Kompromiss vereinbart wurde. Danach dürfen Migranten ohne Schutzanspruch nur in ein Land abgeschoben werden, zu dem sie einen Bezug haben.

Ob es reicht, dass sie es auf der Flucht durchquert haben, ist umstritten. Staaten wie Ruanda jedenfalls liegen nicht auf den wichtigsten Fluchtrouten. Hier müssten also andere, sichere Drittstaaten gefunden werden. Der Brüsseler Asylkompromiss müsste wieder aufgeschnürt werden, wenn das Drittstaatenmodell kommen soll, sagt Thym. Zahlreiche Fragen seien noch zu klären. "Das ist extrem anspruchsvoll."

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