Angela Merkels Führungsanspruch ähnelt der Statik einer Brezel. Eine längliche Teigwurst der Macht wird zunächst von zwei Prinzipien begrenzt. Das eine lautet: Ich bin für die ganze Legislaturperiode gewählt. Das andere geht so: Parteivorsitz und Kanzlerschaft gehören zusammen. Flicht man diese Masse in ihre Form und legt schließlich in der Mitte die beiden Enden übereinander, dann stabilisiert die zentrale Verschränkung der Prinzipien das ganze Gebilde. Die beiden Sätze greifen ineinander. Das ist die Struktur, die derzeit mehr denn je Merkels politische Welt im Innersten zusammenhält.
Beide Prinzipien stehen für sich, aber zusammen sind sie mehr als zwei Sätze. Manchmal formuliert die Kanzlerin die Aussage deshalb in einem Rutsch, wie zuletzt gegenüber der Augsburger Allgemeinen vor gut einer Woche. Auf die Frage, ob sie im Dezember auf dem Parteitag den Vorsitz der CDU abgeben werde, antwortete Merkel: "Ich habe gesagt, ich stehe für diese Legislaturperiode zur Verfügung und ich habe meine Meinung, dass Parteivorsitz und Kanzlerschaft zusammengehören, nicht geändert." Das ging über die Ankündigung, wieder zu kandidieren, hinaus - es war eine Kampfansage.
Denn die Worte fielen nur zwei Tage nach der Wahl von Ralph Brinkhaus zum neuen Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die bedeutete den Sturz Volker Kauders, der über viele Jahre einer der wichtigsten politischen Vertrauten der Kanzlerin war. Deshalb musste das Ergebnis als Niederlage Merkels gewertet werden, was sie auch selbst einräumte. Mit der Bekräftigung ihres Anspruchs auf Parteivorsitz und Kanzlerschaft für die vollen vier Jahre bis 2021 bemühte sich die Kanzlerin mithin nur wenig später, sowohl das Geunke über ein nahes Ende ihrer Regierung zu ersticken, insbesondere aber auch die Spekulation, sie könne als Signal für einen Wechsel in der CDU mit dem Vorsitz zumindest einen Teil der Macht abgeben. Wer immer in ihrer Partei Merkel weghaben will, weiß nun, dass man aufs Ganze gehen muss: Parteiführung und Kanzlerschaft. Oder nichts.
Merkels Überzeugung, dass Vorsitz und Regierungsamt zusammengehören, dürfte unter anderem ein Erbe aus ihrer Zeit mit Helmut Kohl sein. Ausgestattet mit Notizbuch, Telefon und - wie sich später herausstellte - finanziellen Zuwendungen, Bimbes genannt, organisierte der Kanzler auch und gerade seine Macht in der CDU. Beim einzigen ernsthaften politischen Angriff auf Kohl - noch vor Merkels Karriere - nahmen die Rebellen um Lothar Späth 1989 folgerichtig den CDU-Vorsitzenden ins Visier - und scheiterten auf dem Bremer Parteitag kläglich.
Historisch ist die Bilanz nicht eindeutig. Konrad Adenauer und Ludwig Erhard stützen die Theorie von der Einheit beider Ämter: Der eine war unangefochten in Partei und Kanzlerschaft, der andere griff als Regierungschef nach dem Parteivorsitz, als es schon zu spät war. Kurt Georg Kiesinger dagegen übernahm schnell die Führung der CDU, was ihm aber nichts nützte.
Abschreckende Beispiele aus der SPD
Abschreckend sind aus Merkels Sicht nicht zuletzt Beispiele in der SPD. Helmut Schmidt scheiterte 1982, weil die Partei unter dem Vorsitzenden Willy Brandt ihm nicht mehr folgte. Gerhard Schröder wurde nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines 1999 ganz im Sinne des Brezel-Theorems auch SPD-Chef. Als er das Parteiamt 2004 abgab, erklärten die damalige Oppositionsführerin Merkel und andere Kritiker dies zum Anfang vom Ende der Kanzlerschaft. Sie behielten recht.
Aus der Betonung der Einheit von Parteivorsitz und Kanzlerschaft lässt sich auch ablesen, wen Merkel jenseits der Wahlen als entscheidende Instanz sieht: die CDU, nicht die gemeinsame Fraktion der Union. Die Partei hat's gegeben, sie kann es auch wieder nehmen, indem sie jemand anderen an die Spitze wählt. Nach Merkels Logik müsste sie dann auch als Kanzlerin zurücktreten. Die Fraktion dagegen kann Merkel - ohne eigenes Zutun der Regierungschefin durch eine Vertrauensfrage - nur in einem konstruktiven Misstrauensvotum stürzen, in dem ein neuer Kanzlerkandidat aus den eigenen Reihen gegen Merkel antreten müsste.
Die Vertrauensfrage? Vorgezogene Neuwahlen? Nicht mit Angela Merkel
Das zweite Prinzip, eine Kanzlerschaft für volle vier Jahre leitet Merkel aus dem ab, was sie im Wahlkampf versprochen hat. Das politische Motiv liegt aber auch darin, fortwährende Spekulationen über ihren vorzeitigen Abgang zu unterbinden. Die aber werden sich in nächster Zeit wegen der mageren Umfragezahlen kaum aufhalten lassen - erst recht nicht nach möglicherweise deprimierenden Landtagswahlergebnissen für CSU und CDU in Bayern und Hessen. Gerhard Schröder nahm 2005 ein desolates Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen zum Anlass für eine Vertrauensfrage und vorzeitige Neuwahlen. Von Merkel ist das nicht zu erwarten. "Eine Vertrauensfrage kann man stellen", definierte sie jüngst in Augsburg, "wenn es um eine schwierige Sachfrage geht, die man mit dem Vertrauen verbindet."
Für ein vorzeitiges Ende der Kanzlerschaft bliebe so nur ein Rücktritt Merkels, freiwillig, unter Druck, oder beides. Es wäre wohl das Ende der großen Koalition, weil die Zustimmung der SPD zu einem anderen Kanzler als Merkel kaum vorstellbar ist. Ein denkbarer Weg zum Machterhalt der Union findet sich ausgerechnet bei Kurt Georg Kiesinger, dem am wenigsten ruhmreichen CDU-Kanzler. Er bastelte mitten in der Legislaturperiode überraschend eine neue Koalition, statt mit der FDP mit der SPD. Diesmal könnte die Union umgekehrt versuchen, sich ohne Merkel in eine Jamaika-Koalition zu retten.