In Marokko herrscht nach dem schwersten Erdbeben seit mehr als einem Jahrhundert Chaos und Verzweiflung. Der Einsatz internationaler Rettungsteams läuft nur schleppend an. Länder wie Spanien und Tunesien haben bereits Suchtrupps und Sanitäter entsandt, während andere, darunter das deutsche Technische Hilfswerk (THW) und auf Erdbeben spezialisierte Helfer aus Israel, Frankreich, Italien und den USA, noch auf eine Anfrage aus Marokko warten. Das THW teilte mit, seine am Flughafen Köln/Bonn bereits versammelten Helfer vorerst wieder nach Hause geschickt zu haben, da kein internationales Hilfeersuchen von Marokko eingegangen sei. Das Zeitfenster, in dem die Wahrscheinlichkeit groß sei, Menschen lebend unter Trümmern zu retten, habe sich fast geschlossen.
Die Lage in den betroffenen Gebieten Marokkos ist katastrophal, besonders in der Nähe des Epizentrums des Bebens. Hier müssen viele Bewohner bisher ohne technische Geräte nach verschütteten Verwandten und Nachbarn suchen. Die meisten der einfach gebauten Gebäude in den Dörfern südwestlich von Marrakesch sind eingestürzt und haben die schlafenden Bewohner unter sich begraben. Die offizielle Opferzahl von 2122 Todesopfern wird von den Rettungskräften als stark untertrieben angesehen, und es wird befürchtet, dass die tatsächliche Zahl erheblich höher liegt.
Geologie:Selten und zerstörerisch
Erdbeben in dieser Größenordnung gibt es laut Fachleuten in Marokko nur im Abstand von Hunderten von Jahren. Und doch muss man immer mit ihnen rechnen.
Mindestens 2400 Verletzte werden derzeit in Krankenhäusern behandelt, mehr als 1400 befinden sich in einem kritischen Zustand. Die marokkanischen Behörden haben eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen.
Angst vor weiteren Beben beherrscht die Stimmung im Land
Die logistische Herausforderung der kommenden Wintermonate wird erheblich sein, da das Beben hauptsächlich Dörfer und ländliche Regionen am Fuße des Atlas-Gebirges getroffen hat. Berichten zufolge sind hier teilweise 90 Prozent der Häuser beschädigt. In der Provinz Al-Haouz, in der sich das Epizentrum des Erdbebens befand, wurden 1293 Todesopfer gezählt, während in dem benachbarten Taroudant 452 Menschen in schnell ausgehobenen Gräbern beerdigt wurden. Das Epizentrum des Bebens lag unter dem Ort Ighil, einer bergigen ländlichen Gemeinde mit kleinen Bauerndörfern, die auch das bei Touristen beliebte Skigebiet Oukaimeden beherbergt.
Die Angst vor weiteren Beben beherrscht die Stimmung im Land. In den Küstenstädten Casablanca, Agadir, Rabat und Essaouira eilten Bewohner in der Nacht auf die Straße, als die Erdstöße spürbar waren. Seit 1900 gab es im Umkreis von 500 Kilometern neun Erdbeben, von denen aber keines die Stärke 6 überschritt.
Wegen mehrerer Nachbeben trauen sich die meisten Bewohner von Marrakesch nachts nicht mehr in ihre Häuser. Familien suchen Schutz in Parks und auf Parkplätzen. Moderne Gebäude sind oft unversehrt, doch die Intensität des Bebens hat viele ältere Häuser so geschwächt, dass selbst ein kleines Nachbeben sie zum Einsturz bringen könnte.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass in Marrakesch und den umliegenden Gebieten mehr als 300 000 Menschen dringend Hilfe benötigen werden.
Algerien öffnet den Luftraum für humanitäre Flüge
In der historischen Medina von Marrakesch zeigt sich eine Mischung aus Solidarität und Verzweiflung. Anwohner räumen zusammen mit marokkanischen Soldaten die Trümmer des Minaretts einer Moschee und anderer zusammengefallener Gebäude von den Straßen. In der eng bebauten Altstadt suchen Überlebende verzweifelt mit ihren Händen in den Trümmern nach Verschütteten. Die Kritik der Menschen an den wenigen und spät eingetroffenen Rettungsteams wird nur hinter vorgehaltener Hand geäußert, da viele Marokkaner Probleme mit den Sicherheitsbehörden befürchten. In den Parks von Marrakesch wird auch diskutiert, dass König Mohammed VI. erst 18 Stunden nach dem Beben von seinem Urlaub in Frankreich zurückgekehrt sein soll.
Das Land erlebt eine Welle der Solidarität. Die Spieler der marokkanischen Fußballnationalmannschaft spendeten Blut für die Opfer des Erdbebens, und überall im Land haben sich Nachbarschaftsinitiativen gebildet, um Verletzte und Hilfsbedürftige zu unterstützen.
Angesichts der Dringlichkeit des Bedarfs drängen internationale Rettungsteams auf ein offizielles Hilfeersuchen seitens der marokkanischen Regierung. Algerien, das die Beziehungen zu Marokko im Jahr 2021 abgebrochen hatte, erklärte am Samstag, den Luftraum für humanitäre und medizinische Flüge geöffnet zu haben. Doch das Angebot, dringend benötigte Suchtrupps nach Marokko zu schicken, blieb aus - ebenso aus dem Wüstenstaat Mauretanien. Beide Länder streiten mit Marokko erbittert über den Status der Westsahara.