Etwa 20 Personen stürmten eine Baustelle der Coastal-Gaslink-Pipeline im Westen Kanadas. Sie waren mit Äxten und Brandsätzen bewaffnet, sie bedrohten Mitarbeiter, kaperten schwere Baufahrzeuge, beschädigten damit Wohnbaracken und am Ende die Fahrzeuge selbst. Es entstand ein Schaden in Millionenhöhe. Das war vor knapp einem Jahr. Noch weiß niemand, wer in der Provinz British Columbia die Arbeiten an der Pipeline sabotierte. Die Angreifer waren vermummt und in weiße Overalls gekleidet. Eine Kleidung, die gerne von radikalen Klimaschützern getragen wird.
Durch die Pipeline soll demnächst Fracking-Gas zur Westküste fließen und von dort aus weiter nach Asien verschifft werden. Die Pipeline führt auch durch Land der indigenen Bevölkerung. Sie ist hoch umstritten, es gab schon viele Demonstrationen gegen sie. Aber höchste Gerichte haben der Firma TG Energy den Bau erlaubt.
Liveblog zu Lützerath:Demonstranten am Tagebau werden teils von Polizei weggetragen
Zu ihnen gehört auch die schwedische Aktivistin Greta Thunberg. Um die Menschen von der Abbruchkante fernzuhalten, hat die Polizei teilweise Pfefferspray und Schlagstöcke eingesetzt.
Die Aktion in Kanada könnte als Akt schwerer Gewalt durch Teile der Klimabewegung in Erinnerung bleiben. Nach den Zusammenstößen am Wochenende in Lützerath während der Proteste gegen den Braunkohle-Abbau im Rheinischen Revier steht auch hierzulande die Frage im Raum: Wie radikal wird der Klimaprotest?
In Lützerath haben Tausende gegen eine Fortsetzung des Kohlebergbaus demonstriert. Die allermeisten friedlich. Es kam zu unbefugtem Betreten von Grund des Konzerns RWE. Steine flogen auf Polizisten, bisweilen Kugeln aus Matsch. Vereinzelt Molotowcocktails. Kein Vergleich aber zu British Columbia. Doch unter dem Eindruck, dass die Polizei zeitweise wenig zimperlich mit den Aktivistinnen und Aktivisten umging, fiel auf, dass sich die Klimaszene in Lützerath schwertat, sich von Gewalt zu distanzieren.
"Anne Will" über Lützerath:Am Ende ist da fast ein flehentlicher Unterton
Kann ein Kompromiss nicht auch ein Erfolg sein? Als die Runde bei Anne Will zu Lützerath auf diese Frage kommt, tut sich die Kluft auf - zwischen Klimaaktivisten und Grünen-Chefin Ricarda Lang.
Bei einer Pressekonferenz am Sonntag erklärte Indigo Drau, Sprecherin des Bündnisses "Lützerath lebt", mit bebender Stimme: "Ihr habt einer ganzen Generation gezeigt - wenn wir überleben wollen, dann reicht es nicht, an euch zu appellieren." Und: "Wir sind wütender, wir sind entschlossener, wir sind mehr geworden. Wir werden euch nicht mehr in Ruhe lassen." Bei Nachfragen, ob Gewalt legitim sei, war der Tenor: Das Aktionsbündnis lehne das ab, aber Einzelne fühlten sich so hilflos und machtlos, dass sie sich entschieden hätten, diesen Weg zu gehen. Es klang nach Verständnis.
Dabei zeichnet sich etwa die "Fridays for Future"-Bewegung durch ihren familiären Charakter aus. Ein, zwei Schulstunden am Freitag schwänzen oder eine verlängerte Mittagspause vom Büro, dann geht es mit Schulranzen, Luftballons und selbstgebastelten Plakaten zur Demo. Die Masse könne man nur mit friedlichem Protest erreichen und dadurch den größten Druck auf die Politik ausüben, argumentiert die Gruppe. Doch Konfliktforscher warnen seit Längerem, dass sich ein kleiner Kreis bilden könnte, der zu härteren Mitteln greift.
"Die herrschenden Klassen sind auf infernalische und dämonische Art und Weise außer Kontrolle."
Ein Vordenker der radikalen Szene ist der schwedische Humanökologe Andreas Malm von der Universität Lund. In seinem Buch "Wie man eine Pipeline in die Luft jagt" erklärt Malm Sachbeschädigung als legitimes Mittel des Protests. Er fordert, Luft aus den Reifen von SUVs abzulassen, auch die Aktion in Kanada heißt er gut. Als Rechtfertigung nennt er Rekordgewinne und Ausbaupläne fossiler Energiekonzerne in aller Welt und eine Politik, die das zulässt. "Die herrschenden Klassen", schrieb er in einem Gastbeitrag im Spiegel, "sind vollständig und auf eine infernalische und dämonische Art und Weise außer Kontrolle." Als deutscher Bruder im Geiste gilt Tadzio Müller, Mitbegründer der Gruppe "Ende Gelände". Auch er befürwortet Attentate gegen Sachen wie Pipelines.
Staatliche Behörden blicken zunehmend intensiver auf das Treiben. Im Verfassungsschutzbericht 2021 taucht "Ende Gelände" mit der Bemerkung auf, sie sei von Linksextremen unterwandert, die den Protest radikalisieren und den Staat und seine Institutionen delegitimieren wollen. Auch die Gruppe "Letzte Generation" steht unter Beobachtung. Die Mitglieder sind bekannt für ihren zivilen Ungehorsam, kleben sich auf Straßen fest oder beschädigten Rohöl-Pipelines. Im Dezember veranlasste die Staatsanwaltschaft Neuruppin Durchsuchungen bei elf Aktivisten. Der Verdacht lautet auf "Bildung einer kriminellen Vereinigung". Das halten die meisten Juristen für übertrieben, es zeugt wohl eher von zunehmender Beunruhigung bei den Behörden. Denn es deutet wenig bis nichts darauf hin, dass das fossile Zeitalter so schnell endet, wie es sich Klimaschützer wünschen. Auch die Erderwärmung dürfte weiter steigen, eine Entspannung des Konflikts ist nicht in Sicht.
Auf der anderen Seite wehren sich diejenigen, die mit fossiler Energie Geschäfte machen. In British Columbia etwa will sich eine Unternehmergruppe die Sachbeschädigung nicht bieten lassen: Für Hinweise zur Ergreifung der Saboteure an der Coastal-Gaslink-Pipeline bietet sie eine Belohnung von 100 000 kanadischen Dollar.