Nordrhein-Westfalen:Den Absturz vor Augen

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Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration sowie stellvertretender Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, bei seiner Rede auf dem außerordentlichen FDP-Landesparteitag. (Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Die schwarz-gelbe Koalition in NRW steht vor dem Aus, denn die FDP muss bei der Landtagswahl am Sonntag mit herben Verlusten rechnen. Einer der Gründe dafür kandidiert auf Platz zwei der FDP-Liste: Schulministerin Yvonne Gebauer.

Von Paul Munzinger und Christian Wernicke, Düsseldorf

Joachim Stamp gilt als umgänglicher Zeitgenosse. Als vernunftbasierter Konsenspolitiker hat sich Nordrhein-Westfalens FDP-Chef, derzeit noch Vize-Regierungschef der schwarz-gelben Regierung, seit 2017 Respekt verschafft. Beim Versuch, seine liberale Flüchtlingspolitik voranzubringen, hat sich der 51-Jährige öffentlich nur mit Horst Seehofer zerstritten, dem früheren Bundesinnenminister. Und natürlich, das ist für Stamp Ehrensache, mit den 13 AfD-Abgeordneten im Landtag.

Aber Stamp kann, wenn er muss, auch die Rampensau geben. Am Mittwochabend trat der FDP-Mann im Düsseldorfer PSD Bank Dome auf die Bühne, bei einem kurzen Landesparteitag. Wo sonst Eishockey gespielt wird, übte Stamp den politischen Cross-Check - vor allem gegen die Grünen, die am Sonntag den Liberalen den Rang der drittstärksten Partei ablaufen dürften. Die Grünen, so Stamp, wollten Nordrhein-Westfalens gerade erst "entrümpelte Wirtschaftspolitik" wieder rebürokratisieren und obendrein eine Einheitsschule einführen. Schlimmer noch, es drohe, dass CDU-Regierungschef Hendrik Wüst dabei mitmache. "Um den Ministerpräsidenten zu stellen", so steht's im FDP-Wahlaufruf, "wird die CDU den Grünen alles zugestehen." Deshalb also: "Keine Regierung ohne uns."

Sämtliche Umfragen verheißen der NRW-FDP einen Absturz, von 12,6 Prozent vor fünf Jahren auf vielleicht nur sieben Prozent. Etwa so viel also, wie auch der AfD winkt. Stamp und sein Parteifreund Andreas Pinkwart, der Wirtschaftsminister, haben zwar solide gearbeitet. Aber für Schwarz-Gelb wird es wegen der Schwäche der Liberalen nicht mehr reichen. Nur in einer Ampel- und Jamaika-Koalition käme die FDP zurück an den Kabinettstisch.

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Mit ihrem Pandemie-Management lag Gebauer immer wieder daneben

Dafür mag es viele Ursache geben, auch in Berlin. Ein Grund jedoch steht am Sonntag auf dem Wahlzettel, gleich unter Stamps Namen: Auf Platz zwei der Landesliste nämlich kandidiert Yvonne Gebauer, die bisherige Schulministerin. Auch sie hat zwar einiges erreicht, etwa die Umstellung der Gymnasien zurück zu G 9, der neunjährigen Gymnasialzeit. Aber wegen ihres Krisenmanagements in der Corona-Politik - der Schlingerkurs bei Masken oder Tests, kommuniziert mit oft verspäteten Schulmails - ist sie bei Eltern, Schülern und Lehrern eher berüchtigt als berühmt: 76 Prozent aller Wähler kennen sie laut einer Forsa-Umfrage - aber von denen vertraut ihr nicht mal jeder Vierte.

Die Corona-Aufregung rund um die Schulen ist inzwischen abgeebbt, nicht jedoch die Aufregung rund um Gebauer. Ihren jüngsten und womöglich letzten PR-GAU als Schulministerin handelte sie sich direkt vor der Landtagswahl ein. Dabei ging es um die Web-Individualschule in Bochum, die Kinder und Jugendliche online unterrichtet, die dauerhaft krankgeschrieben oder von der Schulpflicht befreit sind. Die meisten sind physisch oder psychisch beeinträchtigt, haben Schul- oder Prüfungsangst.

Anerkannte Abschlüsse kann die private Schule nicht vergeben. Ihre Absolventen legen sogenannte Externenprüfungen ab, für die sie bislang aus ganz Deutschland nach Bochum reisten. Doch das wollte das Ministerium nicht mehr, die Bezirksregierung Arnsberg könne die Organisation nicht mehr leisten. Die Webschule ist seit ihrer Gründung stark gewachsen, aus acht Prüflingen im Jahr 2002 wurden mehr als 100. Und die Prüfungen sind aufwendig, teilweise müssen Sanitäter oder Therapeutinnen dabei sein.

Der Streit landete vor Gericht, das Ministerium bekam recht: Anspruch auf einen zentralen Prüfungsort habe die Schule nicht. In der Woche vor der Landtagswahl mietete Schulleiterin Sarah Lichtenberger also Mietwagen, um ihre Prüflinge auf 16 Schulen zu verteilen. Eine "Extremsituation", sagt Lichtenberger, 60 der eigentlich 120 Absolventen seien kurzfristig abgesprungen. Und so sieht sich Yvonne Gebauer kurz vor der Wahl nicht nur mit dem geballten Frust aus zwei Corona-Jahren konfrontiert, sondern auch noch mit dem Vorwurf, 60 teils schwerbehinderte Jugendliche um ihren Abschluss gebracht zu haben.

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