Geschichte:Dreyer: Judenhass und Rassismus sind nicht überwunden

Lesezeit: 3 min

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD)gedenkt den Opfern des Nationalsozialismus, (Foto: Harald Tittel/dpa/Archivbild)

Erstmals hat der rheinland-pfälzische Landtag gemeinsam mit Parlamentariern aus der internationalen Großregion der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Es gab auch etliche mahnende Worte.

Direkt aus dem dpa-Newskanal

Trier (dpa/lrs) - Knapp 80 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft müssen nach Ansicht der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) Freiheitsrechte und Demokratie immer wieder neu verteidigt werden. „Die Anschläge von Halle und Hanau und viel zu viele Vorfälle im Alltag unseres Landes zeigen, dass Judenhass, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht überwunden sind“, sagte Dreyer bei einer Sitzung des Landtags Rheinland-Pfalz zum Holocaust-Gedenktag am Freitag in Trier. Erstmals waren bei dem zentralen Gedenken des Landes Parlamentarier aus Luxemburg, Belgien, Frankreich und dem Saarland dabei.

„Wie gern würde ich vor Ihnen stehen und sagen: In Deutschland haben wir gelernt, wir haben das Versprechen „Nie Wieder“ eingelöst“, sagte Dreyer. Doch gebe es wieder neu „die Anziehungskraft der einfachen Antworten und des feindseligen Freund-Feind-Denkens“. 2021 habe es bundesweit mehr als 3000 antisemitische Straftaten gegeben, rund 29 Prozent mehr als im Vorjahr. 84 Prozent davon hätten einen rechtsextremistischen Hintergrund gehabt. In Rheinland-Pfalz sei die Zahl von 46 im Jahr 2020 auf 61 im Jahr 2021 gestiegen.

„Es darf niemanden von uns gleichgültig lassen, wenn Menschen im Netz und auf der Straße bedroht werden“, sagte Dreyer vor gut 300 Gästen in der Konstantinbasilika. Sie rief alle dazu auf, überall dagegen aufzustehen, wo die Achtung vor dem anderen „nur im Allerkleinsten“ übertreten werde.

Es bleibe eine deutsche Verantwortung, „unermüdlich gegen das Vergessen anzugehen und die Erinnerungen an die Opfer des Nationalsozialismus zu bewahren“. Die Gedenkarbeit bleibe „eine tragende Säule der politischen Arbeit“ in Rheinland-Pfalz - und solle grenzüberschreitend ausgebaut werden.

Die Gedenk-Sitzung habe gezeigt, dass die Verbrechen bis in die Gegenwart fortwirkten. Als Nachfahren von NS-Opfern kamen Viviane Lipszstadt aus Belgien, Henri Juda aus Luxemburg, Thierry Nicolas aus Frankreich und Horst Bernard aus Deutschland zu Wort. Deren Eltern wurden unter dem NS-Regime verfolgt, ihr Leiden prägte auch die nachfolgende Generation. „Die Traumata meiner Mutter, die absolut Schreckliches in Auschwitz erlebt hat, waren natürlich prägend“, sagte Juda aus Luxemburg.

Dreyer sagte, man müsse in den öffentlichen Debatten und in der Gedenkarbeit noch viel mehr „über die generationenübergreifenden Momente von Schmerz und Trauer“ sprechen. „Die Stimmen der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen verstummen immer mehr. Wir vermissen sie schmerzlich.“ Nachfahre Bernard aus dem Saarland berichtete, er habe den Eindruck, dass sich junge Menschen heute immer noch, „vielleicht sogar zunehmend“ für die Vergangenheit interessierten.

Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD) erinnerte daran, dass das NS-Regime nach Mai 1940 auch aus Luxemburg, Belgien und Frankreich Juden systematisch in Konzentrationslager deportieren ließ. „Wie bereits im Osten, so bauten deutsche Truppen auch im Westen die verbrecherischen Strukturen eines totalitären Staates auf.“ Hering mahnte, die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen auch künftig lebendig zu halten.

So stünden acht Lagerbaracken des ehemaligen Konzentrationslagers (KZ) Bruttig-Treis bei Cochem heute fast ohne Hinweis auf das einstige KZ-Außenlager mitten in Bruttig. Dies sei „ein gutes Beispiel dafür, dass Orte des Schreckens nach Kriegsende bewusst in Vergessenheit geraten sollten“, sagte er. Die Sichtbarmachung solcher Erinnerungsorte dürfe nicht weiter verzögert werden.

Der Journalist und Autor Ulrich Wickert betonte in seiner Rede die Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft für den Frieden in Europa. Jedoch fehle in der deutschen Politik seit Jahren „das emotionale Bekenntnis zur deutsch-französischen Freundschaft“. Beide Länder müssten mehr in die Zukunft investieren. Denn immer weniger Schüler lernten Französisch oder Deutsch. „Zu wenig wird die Kultur der Nachbarn unterrichtet. Ich halte das für verhängnisvoll.“

Er rief dazu auf, sich mehr für die Spracherziehung und die Zukunft von Europa einzusetzen. Die gemeinsame Gedenkveranstaltung mit Luxemburg, Belgien, Frankreich und dem Saarland markiert auch den Beginn der rheinland-pfälzischen Präsidentschaft im Interregionalen Parlamentarierrat der Großregion.

Familienministerin Katharina Binz erinnerte an NS-Opfer, die aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität verfolgt, inhaftiert und ermordet wurden. Zum Gedenken im Bundestag sagte sie: „Es war längst fällig, queere NS-Opfer in den Fokus zu rücken und das Andenken an sie wachzuhalten.“ Binz nahm an einer Veranstaltung an der Gedenk-Stele in Mainz teil. Von 1933 bis Mai 1945 wurden rund 50.000 Menschen wegen des Verdachts der Homosexualität verurteilt. „Auch transidente, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen wurden verfolgt, weil sie nicht in das binäre Menschenbild der Nationalsozialisten passten“, erklärte das Ministerium.

Am 27. Januar 1945 hatten sowjetische Truppen die Überlebenden des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz befreit. Die Nazis hatten dort mehr als eine Million Menschen ermordet. Seit 1996 wird das Datum in Deutschland als Holocaust-Gedenktag begangen.

© dpa-infocom, dpa:230126-99-370214/5

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: