Am Freitag wird in Köln kein Muezzin über Lautsprecher zum Mittagsgebet rufen - obwohl es in Nordrhein-Westfalens einziger Millionenstadt jetzt erlaubt ist. "Wir haben bisher keine Anträge auf Genehmigung erhalten", sagte eine Sprecherin der Stadt Köln am Donnerstag und nannte einen einfachen Grund: "Die meisten Moscheegemeinden haben dafür gar keine Lautsprecheranlage." Die Stadt rechne erst später mit Anträgen, drei der mehr als 40 Gemeinden hatten Interesse bekundet.
Mit ihrem Modellprojekt hat Kölns parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker bundesweit für Schlagzeilen und Streit gesorgt. Köln ist nicht die erste deutsche Stadt, die den Ruf erlaubt. In der Fatih-Moschee im nordrhein-westfälischen Düren ruft der Muezzin sogar schon seit den 90er-Jahren, und das dreimal täglich. Landesweit einheitliche Vorgaben gibt es nicht. In der islamischen Welt kündigt der Ruf des Muezzins vom Minarett, dem Turm der Moschee, die Zeit zum Gebet an. Fünf Gebete Richtung Mekka am Tag schreibt der Koran vor, das Gemeinschaftsgebet der Männer in der Moschee ist nur freitags Pflicht.
In Köln können Gemeinden die Rufe für das mittägliche Freitagsgebet beantragen, befristet auf zwei Jahre. Der Gebetsruf darf zwischen zwölf und 15 Uhr und höchstens fünf Minuten lang ertönen. Die Lautstärke wird je nach Lage der Moschee festgelegt, die Nachbarschaft muss frühzeitig mit Flyern informiert werden und in der Moscheegemeinde einen Ansprechpartner bekommen.
Oberbürgermeisterin Reker hat ihre Initiative mit dem Grundgesetz begründet und dafür unter anderem Zuspruch von Christian Lindner bekommen. "Wir haben die Freiheit der Religionsausübung, und dazu gehört auch das", sagte der FDP-Chef. Reker verwies auf die vielen in Köln geborenen Musliminnen und Muslime als festen Bestandteil der Stadtgesellschaft: "Wer das anzweifelt, stellt die Kölner Identität und unser friedliches Zusammenleben infrage." Wenn in Köln neben dem Kirchengeläut auch der Ruf des Muezzins erklinge, dann weil "in Köln Vielfalt geschätzt und gelebt wird", so Reker.
"Knicks vor dem politischen Treiben Erdoğans"
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lebten 2019 zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Muslime in Deutschland. Besonders viele wohnen in Köln, wo vor drei Jahren im Beisein des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Deutschlands größte Moschee eröffnet wurde. Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, kurz Ditib, berät noch darüber, wie sie es mit dem Gebetsruf in der Zentralmoschee halten will. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, begrüßt das Projekt: "Köln sendet damit ein Zeichen der Toleranz und der Vielfalt in die Welt." Der Ruf des Muezzins sei integraler Bestandteil des muslimischen Gebets und in Europa und den USA vielerorts selbstverständlich.
Skeptiker befürchten jedoch, dass der Ruf zum Gebet als Machtdemonstration umstrittener muslimischer Verbände verstanden werden könne. "Diese Symbolpolitik dient den Falschen", kritisierte etwa Lale Akgün, die frühere Islam-Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion. Sie betonte die engen Verbindungen der Ditib zur türkischen Regierung: "Die Erlaubnis für den Muezzin-Ruf von der Ehrenfelder Moschee ist also ein Knicks vor dem politischen Treiben Erdoğans, auch in Deutschland."
Die Soziologin und Publizistin Necla Kelek sagte der Deutschen Presse-Agentur, auf Toleranz könne sich nur berufen, wer sich selbst an die gesellschaftlichen Regeln halte. "Wenn zum Freitagsgebet nur Männer eingeladen werden und den Frauen nur ein separater Raum geboten wird, dann wird dort ein archaisches Gesellschaftsmodell gelebt", warnte Kelek.