Kindergrundsicherung:"Familien investieren zusätzliches Geld normalerweise vor allem in ihre Kinder"

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Die Armut der Eltern wird häufig an die Kinder vererbt. Kindergarten in Hamburg. (Foto: Christian Charisius/dpa)

Noch immer lebt etwa jedes siebte Kind in Deutschland an der Armutsgrenze. Und das bei sinkenden Arbeitslosenzahlen. Ökonom Ulrich Walwei über die Gründe - und die Frage, was wirklich helfen würde.

Interview von Roland Preuß, Berlin

Etwa jeder siebte Minderjährige in Deutschland gilt als armutsgefährdet. Obwohl es deutlich weniger Arbeitslose gibt als vor 15 Jahren, scheint das Problem nicht kleiner zu werden. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) will Kindern und Familien mit der Kindergrundsicherung helfen, sie soll staatliche Hilfen wie Kindergeld, den Kinderzuschlag für ärmere Familien und Teile des Bürgergelds bündeln, die Hilfe soll zudem deutlich höher ausfallen. Ulrich Walwei ist Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesagentur für Arbeit. Er beschäftigt sich seit Langem mit der Frage, wie staatliche Unterstützung wirkt.

SZ: Fast zwei Millionen Kinder in Deutschland sind auf Grundsicherung angewiesen, ähnlich viele wie schon 2015. Versagt Deutschland darin, Familien aus armen Verhältnissen zu holen?

Walwei: Wir haben natürlich eine Lage, die so nicht bestehen bleiben darf. Allein schon deshalb, weil die Armut der Eltern häufig an die Kinder weitervererbt wird, ihre Startchancen sind schlechter. Gleichwohl muss man sagen, dass die hohen Zahlen bei der Kinderarmut durch Zuwanderung bedingt sind. Hunderttausende Geflüchtete sind hinzugekommen, aus Syrien und Afghanistan, zuletzt aus der Ukraine. Zugewanderte Kinder zählen genauso wie alle anderen, ohne sie gäbe es deutlich weniger arme Kinder in Deutschland. Wenn Menschen beispielsweise auf der Flucht nach Deutschland kommen, so ist das nicht überraschend.

Der Anteil der zugewanderten Kinder unter den Minderjährigen im Bürgergeld ist stark gewachsen. 2015 waren es knapp 20 Prozent, inzwischen ist es fast die Hälfte. Inwiefern muss man die Hilfe anpassen?

Wir wissen, dass Zuwanderer ein hohes Risiko haben, Niedriglöhne zu verdienen. Umso wichtiger ist es, den Aufstieg der Eltern zu unterstützen.

Was heißt das konkret?

Nötig sind Sprachkurse, Integrationskurse, Ausbildungsangebote. Man sollte sich zudem die Kompetenzen der Menschen näher ansehen, damit sie diese Fertigkeiten nutzen können für den Arbeitsmarkt. Abschlüsse müssen anerkannt und durch Fortbildungen ergänzt werden. So können sie meist das Einkommen erhöhen. Zeugnisse und Abschlüsse sind nun mal wichtig in Deutschland.

Familienministerin Lisa Paus will, dass arme Familien durch die geplante Kindergrundsicherung deutlich mehr Geld vom Staat bekommen. Wird das Geld tatsächlich bei den Kindern ankommen?

Die Studien, die wir vorliegen haben, sagen: in der Regel ja. Natürlich kann man das nicht in jedem Einzelfall garantieren. Aber das Stereotyp, wenn man Familien mehr Geld gibt, dann kaufen die Eltern mehr Alkohol, Zigaretten oder Unterhaltungselektronik, das stimmt nicht. Das Geld fließt vielmehr in bessere Wohnungen, in die Bildung und Hobbys der Kinder.

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Wenn man mit Jobcenter-Beratern spricht, so berichten die häufig von Arbeitslosen, die ein Suchtproblem haben. Eine Suchterkrankung kann stark Besitz ergreifen von den Menschen und dazu führen, dass sie viel Geld ausgeben, um ihre Sucht zu befriedigen. Ist das eine Gefahr?

Ja, meine Aussage bezog sich auf die Gruppe als Ganzes. Gerade wenn Sucht eine Rolle spielt, kann dies auch bei Familien anders sein. Das sind aber eher die Ausnahmen. Wir müssen allerdings auch sagen: Ganz genau wissen wir dies nicht. Die Studien, die wir haben, beziehen sich auf eine Erhöhung des Kindergelds und das Landeserziehungsgeld, die Familien im Bürgergeld sind nicht die gleiche Gruppe. Klar aber ist: Familien investieren zusätzliches Geld auch in einer finanziell schwierigen Situation normalerweise vor allem in ihre Kinder.

Kommen Sachleistungen wie beim sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket besser an, also Geld nur für Nachhilfe oder den Sportverein?

Ja, allerdings muss man das nicht als Alternative zu höheren Geldleistungen sehen. Mehr Geld und gezielte Sachleistungen können sich ergänzen. Bei der gezielten Förderung von Freizeit oder auch Kulturangeboten für Kinder kommt die Hilfe genauer an, allerdings ist der bürokratische Aufwand groß. Schätzungen gehen von 20 bis 30 Prozent Bürokratiekosten beim Bildungs- und Teilhabepaket aus. Die Herausforderung besteht darin, diesen Aufwand zu verringern und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Familien leichter an diese Unterstützung kommen. Bisher ist das oft zu aufwendig.

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Was ist darüber hinaus nötig, um das Problem der Kinderarmut an der Wurzel anzugehen?

Man muss vor allem die Bildungsarmut bekämpfen. Hierzu muss man sehr früh ansetzen, bei der frühkindlichen Erziehung. In diesen frühen Jahren kann ein Kind schon derart zurückfallen, dass es den Rückstand nur noch schwer aufholen kann. Zentral ist außerdem, dass die Eltern erwerbstätig sind und damit möglichst ein existenzsicherndes Einkommen erzielen. Das ist für die Orientierung der Kinder extrem wichtig, nicht das Gefühl zu haben, wir sind von staatlichen Leistungen abhängig, sondern die Eltern schaffen das aus eigener Kraft. Für die vielen zugewanderten Kinder kommt hinzu: Deutschlernen muss sehr systematisch betrieben werden. Nur damit ermöglichen wir ihnen eine Bildungskarriere.

Reichen die aktuellen Regelsätze im Bürgergeld, um Kindern eine gute Chance auf sozialen Aufstieg zu eröffnen?

Das kommt darauf an, ob das Bürgergeld für die Eltern nur eine Episode ist. Der Fokus im Bürgergeld ist, dass man möglichst rasch wieder in die Arbeitswelt eingegliedert wird. Dann ist die Lage kein so großes Hindernis. Wenn die Familie aber länger Hilfe bezieht, ist das anders. Fast 20 Prozent der Kinder sind innerhalb von fünf Jahren dauerhaft oder immer wieder in der Grundsicherung. Dann fällt ein Aufstieg wirklich schwer.

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