Antisemitismus:"Die Preisträger des Jahres 2024 leben in Angst"

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Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt bei der Verleihung des Karlspreises an diesem Donnerstag in Aachen. (Foto: Jana Rodenbusch/REUTERS)

Pinchas Goldschmidt, oberster Rabbiner in Europa, erhält in Aachen den Karlspreis. Der 60-Jährige nutzt seine Rede für einen dramatischen Hilferuf an die EU: "Das Judentum in Europa ist erneut existenziell bedroht!"

Von Christian Wernicke, Aachen

Zu Beginn seiner Rede im Aachener Rathaus lächelt er noch. Pinchas Goldschmidt, der oberste Rabbiner von 1,5 Millionen Juden in Europa, erinnert sich an ein Gespräch mit seinen Gastgebern im Februar. Damals hätten ihn Vertreter des Karlspreis-Direktoriums gefragt, wie viele Gäste er einladen wolle zum Festakt am Himmelfahrtstag. "Nun ja, in Europa leben 1,5 Millionen Juden", habe er da gesagt.

Alle hatten damals gelacht, auch Goldschmidt selbst. Aber seine Antwort stimmte, sie steht sogar auf der Urkunde, die er Minuten später samt Medaille erhält: Der Karlspreis 2024 ehrt an diesem sonnigen Donnerstag nicht nur einen weisen Oberrabbiner - laut Jury-Begründung geht die Auszeichnung zugleich an alle "jüdischen Gemeinschaften in Europa". An alle Juden auf dem alten Kontinent also.

"Mit dieser Auszeichnung haben Sie sich auch selbst verpflichtet."

Dann wird es ernst. Bitterernst, denn der Präsident der Konferenz der europäischen Rabbiner (CER) nutzt seine zwanzigminütige Dankesrede für einen erschütternden Hilferuf an Europa. Ja, er empfinde den Karlspreis als Verpflichtung, "meine Arbeit für unsere Werte, für Versöhnung und Dialog, für Freiheit und Demokratie noch stärker fortzusetzen". Dafür, auch für sein Mühen zur Zusammenarbeit mit den religiösen Führern von 40 Millionen Muslimen in Europa, haben die Aachener ihn ja geehrt.

Dann folgt Goldschmidts großes Aber. Ohne erhobenen Zeigefinger zwar, und doch mahnend: "Aber", erinnert der Laureat sein Publikum mit warmer Stimme, "mit dieser Auszeichnung haben Sie sich auch selbst verpflichtet" - zum Schutz der Juden. Vor hundert Jahren hätten auf dem Kontinent noch über hundert Millionen Menschen jüdischen Glaubens gelebt, heute seien es weniger als eineinhalb Millionen. Und die sähen sich seit dem 7. Oktober, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, überall einer neuen, nie geahnten Welle des Antisemitismus ausgesetzt: "Das Judentum in Europa ist erneut existenziell bedroht!"

Goldschmidt zitiert kurz einige Zeilen aus der wohlmeinenden Begründung der Karlspreis-Verleihung. Man wolle, so heißt es da etwa, "das Signal setzen, dass jüdisches Leben selbstverständlich zu Europa gehört und in Europa kein Platz für Antisemitismus sein darf". Da nicken die Honoratioren, der Saal zollt Beifall, auch Vizekanzler Habeck. Goldschmidt lächelt wieder. Das klinge zwar märchenhaft, sagt der 60-Jährige, "aber ich bin zu alt, um an Märchen zu glauben". Zwar sei er dankbar für alle Bemühungen etwa des deutschen Staates, jüdischen Menschen Sicherheit zu geben. "Aber so leid es mir tut: Was getan wird - es reicht nicht!"

Goldschmidt erzählt von der Wirklichkeit. Von antisemitischen Straftaten, "bis hin zu Körperverletzung und Mord". Von jüdischen Kitas und Seniorenheimen unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen, von Demonstrationen, bei denen "sich der Judenhass auf den Straßen austobt". Dann folgt sein eindringlichster Appell - an Aachen, an alle Deutschen und Europäer: "Die Karlspreisträger des Jahres 2024 - sie leben in Angst!" Jeden im Saal nimmt der Rabbiner in die Pflicht: "Dem müssen Sie, meine Damen und Herren, etwas entgegensetzen."

Auch ihn plagten Probleme mit rechtsradikalen Ministern in Israel, räumt er ein

Gegen Ende seiner Rede räumt Goldschmidt ein, auch ihn plagten Probleme mit rechtsradikalen Ministern in Israels Regierung. Und auch ihn ließen "die Bilder aus dem Gazastreifen nicht kalt - wie könnten sie?" Dennoch, der Rabbiner fordert mehr Solidarität mit Israel - und setzt sich damit über das Protokoll seiner Aachener Gastgeber hinweg: Denn das Karlspreis-Direktorium betont seit Wochen, man wolle mit der Preisverleihung keinesfalls Partei ergreifen im Nahost-Konflikt.

Robert Habeck, Vizekanzler und Laudator, hält sich an diese Vorgabe. Der Geisteswissenschaftler zeichnet die Blutspur nach, die sich zumal durch die deutsche Geschichte zieht, er zitiert belesen Philosophen und Intellektuelle. Goldschmidt, der Gelehrte, hört aufmerksam zu; das Publikum lauscht mehr geduldig als gespannt.

Gegen Ende seines Vortrags fordert der grüne Deutsche recht jäh eine "föderale europäische Republik", in der alle Sprachen und Nationen ihren Platz hätten und "niemand Angst vor dem Verlust der je eigenen Geschichte und Kultur haben" müsse. "Einheit in Vielfalt" eben. Europa werde auf diese Weise, so Habecks Wortschöpfung, "eine Verbundenheit ohne Ab-Stammeszugehörigkeit" bieten. Für alle. Und für jede Jüdin und jeden Juden müsse gelten: "Zu Hause sein. Angekommen. Heimat Europa."

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