Junckers Bilanz vor dem Europaparlament:"Bekämpft mit aller Kraft den dummen Nationalismus"

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Gegen Nationalismus, für Frieden und gemeinsames Bemühen: Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem Europaparlament in Straßburg. (Foto: AP)
  • Bei seiner Abschiedsrede vor dem EU-Parlament zieht der scheidende EU-Kommissionspräsident Juncker Bilanz.
  • Er gehe mit dem "Gefühl, sich redlich bemüht zu haben", sagt er und schiebt hinterher: Hätten sich alle redlich bemüht, wäre vieles besser.
  • Offiziell endet Junckers Amtszeit am 31. Oktober. Da seine Nachfolgerin von der Leyen noch drei EU-Kommissarsposten besetzen muss, wird er darüber hinaus bis zu ihrem Amtsantritt noch die Geschäfte führen.

Von Björn Finke, Straßburg

Die Abgeordneten im mäßig gefüllten Plenarsaal des Europäischen Parlaments applaudieren im Stehen, und das zweimal: einmal zur Begrüßung, bevor Jean-Claude Juncker seine Ausführungen beginnt, und dann nach seiner 23-minütigen Ansprache. Der scheidende Präsident der EU-Kommission hat am Dienstag seine Abschiedsrede im Abgeordnetenhaus in Straßburg gehalten. Er und die Parlamentarier zogen Bilanz seiner Zeit an der Spitze der Brüsseler Behörde - und sparten nicht mit Kritik an den Regierungen der Mitgliedstaaten.

Juncker spricht bei seinem 105. Aufritt im Europaparlament von den Höhen und Tiefen seiner fünf Jahre auf dem Posten. Er bedauert, dass es trotz vieler Bemühungen nicht gelungen ist, Zypern wiederzuvereinigen. Und mit der Schweiz gebe es auch kein neues Abkommen über die Beziehungen zur EU. Außerdem klagt der Luxemburger, dass die Regierungen eine EU-weite Einlagensicherung für Bankkonten der Bürger verhinderten.

Als Erfolg nennt er die Bewältigung der Griechenland-Krise. Es sei gelungen, dem Land, das 2015 vor dem Rauswurf aus der Euro-Zone stand, seine Würde zurückzugeben. "Zu lange wurde die Ehre Griechenlands mit Füßen getreten", sagt der 64-Jährige. Einige EU-Mitgliedstaaten hätten ihn und die Kommission davon abhalten wollen, sich während der Krise für Griechenland einzusetzen.

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Die 27 verbleibenden Mitglieder wollen darüber erst entscheiden, wenn das neue Abkommen im Unterhaus durchfallen sollte. Die britische Regierung glaubt aber an eine Mehrheit für den Deal.

Von Björn Finke, Brüssel, und Alexander Mühlauer, London

Der frühere Premierminister Luxemburgs wechselt vom Französischen ins Deutsche, um einen weiteren Erfolg anzusprechen: dass die EU den Frieden auf dem Kontinent wahre. "Frieden ist nicht selbstverständlich, und wir sollten stolz darauf sein, dass Europa den Frieden erhält", sagt er. Die Bedeutung des Kontinents in der Welt nehme jedoch ab. Um gegenüber anderen Mächten stärker auftreten zu können, sollten die EU-Mitglieder bei außenpolitischen Entscheidungen vom Prinzip der Einstimmigkeit abrücken, fordert er.

Juncker fing in schwierigen Zeiten an: Die Schuldenkrise war nicht vorbei, kurz darauf spitzte sich die Flüchtlingskrise zu, und 2016 entschieden die Briten dann, die EU zu verlassen. Europa sei 2014 geschwächt und die EU ungeliebt gewesen, erinnert sich der Christdemokrat. Er habe daher beim Start von einer "Kommission der letzten Chance" gesprochen. Er scheide nun aus dem Amt - "nicht betrübt, nicht übermäßig glücklich, aber mit dem Gefühl, sich redlich bemüht zu haben". Hätten sich alle redlich bemüht, wäre vieles besser, sagt er: eine weitere Spitze gegen Regierungen, die Pläne der Kommission blockiert haben. Er schließt mit einem Appell: "Bekämpft mit aller Kraft den dummen Nationalismus. Es lebe Europa."

Der Brexit spielt bei seiner Rede keine Rolle, aber zu diesem Dauerthema hatte er sich bereits bei einem Auftritt im Parlament am Morgen geäußert. Da bezeichnete Juncker den Austritt der Briten als "Verschwendung von Zeit und Energie". Und er unterstützte die Auffassung der Abgeordneten, dass sich das Europaparlament erst dann mit dem Austrittsabkommen befassen solle, wenn das Unterhaus in London diesem auch zugestimmt habe.

Juncker bleibt kommissarisch im Amt

Die EU und die Briten hatten sich vergangene Woche bei einem Gipfeltreffen in Brüssel auf Änderungen beim Scheidungsvertrag geeinigt. Das Europaparlament muss dem Abkommen zustimmen - dafür war dieser Donnerstag vorgesehen. Die Verzögerungen im Unterhaus machen diesen Plan hinfällig. Jetzt könnte sich das Europaparlament frühestens bei einer Sondersitzung kommende Woche damit befassen - oder erst Mitte November, nach dem ursprünglich vorgesehenen Austrittstermin 31. Oktober. Allerdings hat die britische Regierung ohnehin eine Verschiebung des Brexit beantragt.

Nach Junckers Abschiedsrede ist es an den Abgeordneten, über die Arbeit der Kommission Bilanz zu ziehen. Das bleibt aber eine sehr friedliche Veranstaltung: Der Luxemburger wird viel gelobt. Die Verantwortung dafür, dass manche Ziele nicht erreicht wurden, wird meist den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten gegeben.

Junckers designierte Nachfolgerin Ursula von der Leyen sollte den Posten am 1. November übernehmen, doch das verzögert sich, weil das Europaparlament drei Kandidaten für Kommissarsposten abgelehnt hat. Nun kann die neue Kommission frühestens im Dezember anfangen, und solange führt der Luxemburger die Geschäfte. Über von der Leyen sagt Juncker in seiner Rede, sie sei "die Frau, die wir brauchen, und sie braucht unsere Unterstützung".

Nach dem holprigen Start könnte der Deutschen etwas mehr Unterstützung aus dem Europaparlament tatsächlich nicht schaden.

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