Italien wählt, und die Welt ist gelassen. Die Finanzmärkte? Ruhig. Brüssel, Paris, Berlin? Gefasst. Dabei sind diese Parlamentswahlen am Sonntag selbst für die Standards der bewegten, nicht selten byzantinischen italienischen Politik ein großes Rätsel. Vielleicht war noch nie ungewisser, wer das Land regieren wird, als diesmal. Das hat nicht unwesentlich mit einer Partei zu tun, die Italiens Politgefüge nachhaltiger und profunder verändert hat, als man es bisher angenommen hat: die Cinque Stelle.
Mit einem "Vaffanculo" hat alles begonnen, einem "Leck-mich-am-Arsch". Hingeschmettert von einem Komiker mit dem Zeug zum Agitator. Es wirkte wie eine satirische Nummer gegen das Establishment: gegen die Kaste der alten Parteien, der Berufspolitiker und Großbanker, gegen die Korruption der Mächtigen. Das "Vaffanculo" galt dem ganzen System, pauschal und laut. Als Beppe Grillo 2009 die postideologische und theoretisch basisdemokratische Bewegung Cinque Stelle gründete, dachte man, dass sie eine Weile lang wie ein Katalysator funktionieren würde, für Enttäuschungen links und rechts. Und dann schnell verglüht, wie eine Supernova.
Doch die Sterne sind noch immer da, die lange Wirtschaftskrise hat sie gestärkt. Glaubt man den Umfragen, werden sie von allen Parteien am meisten Stimmen gewinnen, vielleicht 28 Prozent, und das ist schon allerhand. Keine Protestpartei in Europa ist größer. An die Macht werden sie wahrscheinlich trotzdem nicht kommen. Doch die Cinque Stelle haben die italienische Politik insgesamt angesteckt mit ihrem populistischen Diskurs. Jetzt brüllen alle. Wer nicht brüllt, der droht im Gebrüll der anderen unterzugehen. Auch die rechtsextreme Lega (vormals Lega Nord) und die postfaschistischen Fratelli d'Italia propagieren den Systembruch und schüren Ängste und Ressentiments. Zählt man die möglichen Stimmen der Brüllerparteien zusammen, kommt man auf fast 50 Prozent.
Der unklare Ausgang des Votums hängt auch mit dem neuen Wahlgesetz zusammen
Für die Zeitung La Repubblica verändert diese Entwicklung den Charakter Italiens. "Aus einem christdemokratischen Land", schreibt ihr früherer Chefredakteur Ezio Mauro, "das moderat, konziliant und kompromissbereit war und feste Grundwerte teilte, etwa die Haltung zu Europa und zum Westen, sind wir in diesen vergangenen Jahren immer mehr zu einem Hort von Radikalismen geworden, ohne Referenzpunkte, ohne gemeinsamen Kompass." Es ist also durchaus zentral, wer in Italien gewinnt. Die Gelassenheit an den Märkten und in den Hauptstädten Europas ist wohl dem Optimismus geschuldet, dass die Italiener in ihrer Geschichte schon mit vielen Krisen klargekommen sind und es auch diesmal schaffen werden.
Die Unwägbarkeit hängt auch mit dem neuen Wahlgesetz zusammen, dem sogenannten Rosatellum, das verschiedene Modelle mischt und erstmals zur Anwendung gelangt. Zwei Drittel der Sitze in den beiden Parlamentskammern werden nach dem Verhältnismodus vergeben, was zu einer recht starken Streuung führen dürfte. Das restliche Drittel wird nach dem Mehrheitsmodus in Einerwahlkreisen bestimmt. Mit 40 Prozent der Stimmen, so haben es die Wahlexperten errechnet, sollte eine Partei oder eine Koalition genügend Mandate gewinnen für eine Regierungsmehrheit. 40 ist die magische Zahl.
Nur das Rechtsbündnis mit Silvio Berlusconis Forza Italia, Matteo Salvinis Lega, Giorgia Melonis Fratelli d'Italia und einigen zentristischen Splitterparteien scheint diese Marke erreichen zu können - knapp. Ginge Forza Italia als stärkste Partei der Koalition aus der Wahl hervor, wäre Berlusconi wohl bereit, der Geburt einer Regierung zuzustimmen. Selber kann er nicht Premier werden, weil er unter einem Ämterbann steht. Als Statthalter brachte er Antonio Tajani ins Spiel, den Präsidenten des Europaparlaments. Anders sähe es aus, wenn die Lega Forza Italia überholen würde und Berlusconi nicht mehr Herr im eigenen Haus wäre.