Italien vor der Wahl:Mit einem "Vaffanculo" hat es begonnen
Lesezeit: 4 Min.
Und jetzt brüllen alle in Italien. Denn wer es nicht tut, der droht im Gebrüll der anderen unterzugehen. Nach der Wahl sind abenteuerliche Bündnisse möglich.
Von Oliver Meiler, Rom
Italien wählt, und die Welt ist gelassen. Die Finanzmärkte? Ruhig. Brüssel, Paris, Berlin? Gefasst. Dabei sind diese Parlamentswahlen am Sonntag selbst für die Standards der bewegten, nicht selten byzantinischen italienischen Politik ein großes Rätsel. Vielleicht war noch nie ungewisser, wer das Land regieren wird, als diesmal. Das hat nicht unwesentlich mit einer Partei zu tun, die Italiens Politgefüge nachhaltiger und profunder verändert hat, als man es bisher angenommen hat: die Cinque Stelle.
Mit einem "Vaffanculo" hat alles begonnen, einem "Leck-mich-am-Arsch". Hingeschmettert von einem Komiker mit dem Zeug zum Agitator. Es wirkte wie eine satirische Nummer gegen das Establishment: gegen die Kaste der alten Parteien, der Berufspolitiker und Großbanker, gegen die Korruption der Mächtigen. Das "Vaffanculo" galt dem ganzen System, pauschal und laut. Als Beppe Grillo 2009 die postideologische und theoretisch basisdemokratische Bewegung Cinque Stelle gründete, dachte man, dass sie eine Weile lang wie ein Katalysator funktionieren würde, für Enttäuschungen links und rechts. Und dann schnell verglüht, wie eine Supernova.
Doch die Sterne sind noch immer da, die lange Wirtschaftskrise hat sie gestärkt. Glaubt man den Umfragen, werden sie von allen Parteien am meisten Stimmen gewinnen, vielleicht 28 Prozent, und das ist schon allerhand. Keine Protestpartei in Europa ist größer. An die Macht werden sie wahrscheinlich trotzdem nicht kommen. Doch die Cinque Stelle haben die italienische Politik insgesamt angesteckt mit ihrem populistischen Diskurs. Jetzt brüllen alle. Wer nicht brüllt, der droht im Gebrüll der anderen unterzugehen. Auch die rechtsextreme Lega (vormals Lega Nord) und die postfaschistischen Fratelli d'Italia propagieren den Systembruch und schüren Ängste und Ressentiments. Zählt man die möglichen Stimmen der Brüllerparteien zusammen, kommt man auf fast 50 Prozent.
Der unklare Ausgang des Votums hängt auch mit dem neuen Wahlgesetz zusammen
Für die Zeitung La Repubblica verändert diese Entwicklung den Charakter Italiens. "Aus einem christdemokratischen Land", schreibt ihr früherer Chefredakteur Ezio Mauro, "das moderat, konziliant und kompromissbereit war und feste Grundwerte teilte, etwa die Haltung zu Europa und zum Westen, sind wir in diesen vergangenen Jahren immer mehr zu einem Hort von Radikalismen geworden, ohne Referenzpunkte, ohne gemeinsamen Kompass." Es ist also durchaus zentral, wer in Italien gewinnt. Die Gelassenheit an den Märkten und in den Hauptstädten Europas ist wohl dem Optimismus geschuldet, dass die Italiener in ihrer Geschichte schon mit vielen Krisen klargekommen sind und es auch diesmal schaffen werden.
Die Unwägbarkeit hängt auch mit dem neuen Wahlgesetz zusammen, dem sogenannten Rosatellum, das verschiedene Modelle mischt und erstmals zur Anwendung gelangt. Zwei Drittel der Sitze in den beiden Parlamentskammern werden nach dem Verhältnismodus vergeben, was zu einer recht starken Streuung führen dürfte. Das restliche Drittel wird nach dem Mehrheitsmodus in Einerwahlkreisen bestimmt. Mit 40 Prozent der Stimmen, so haben es die Wahlexperten errechnet, sollte eine Partei oder eine Koalition genügend Mandate gewinnen für eine Regierungsmehrheit. 40 ist die magische Zahl.
Nur das Rechtsbündnis mit Silvio Berlusconis Forza Italia, Matteo Salvinis Lega, Giorgia Melonis Fratelli d'Italia und einigen zentristischen Splitterparteien scheint diese Marke erreichen zu können - knapp. Ginge Forza Italia als stärkste Partei der Koalition aus der Wahl hervor, wäre Berlusconi wohl bereit, der Geburt einer Regierung zuzustimmen. Selber kann er nicht Premier werden, weil er unter einem Ämterbann steht. Als Statthalter brachte er Antonio Tajani ins Spiel, den Präsidenten des Europaparlaments. Anders sähe es aus, wenn die Lega Forza Italia überholen würde und Berlusconi nicht mehr Herr im eigenen Haus wäre.
Wahrscheinlich würde er dann mit seinen radikalen, ohnehin unliebsamen und politisch ziemlich unvereinbaren Partnern brechen. Er könnte stattdessen bei der Bildung einer großen Koalition helfen und sich dafür erneut, wie 2013, dem sozialdemokratischen Partito Democratico andienen für eine europafreundliche, moderate, reformerische Regierung im politischen Zentrum. Das ist das Wunschszenario des Auslands, die Stabilitätsvariante. Die Frage ist nur, ob es Forza Italia, Partito Democratico und Alliierte auf 40 Prozent bringen. Reicht es nicht, würden sich sicher da und dort Überläufer finden lassen. Während des Wahlkampfs stritten beide Lager ab, miteinander koalieren zu wollen. Im Subtext ihrer Dementi stand aber immer: Wir werden nicht zulassen, dass das Land in die Hände der "Extremisten" fällt.
Theoretisch und arithmetisch ist nämlich auch ein solches Szenario möglich: eine Koalition der Populisten - Cinque Stelle, Lega, Fratelli d'Italia. Das Brüllerbündnis, das Schreckensszenario. Inhaltlich eint sie etliches: die Skepsis gegenüber Europa und dem Euro, aus dem aber plötzlich niemand mehr austreten will, die Lust nach nationaler Abschottung und Strafzöllen, die Nähe zu Wladimir Putin, die Abneigung gegen das obligatorische Impfen, zunehmend auch die Haltung in der Immigrationsfrage. Dennoch: Eine solche Kombination ist sehr unwahrscheinlich. Die Parteien würden innerlich daran zerbrechen; und Italiens Staatspräsident, der den Regierungsauftrag vergibt, wird das Land davor bewahren wollen.
Rechnerisch sind auch andere abenteuerliche Varianten möglich. Zum Beispiel ein Zweckbündnis zur Verhinderung der gesamten Rechten: Cinque Stelle, Sozialdemokraten und Linke. Das käme auf fast 60 Prozent. Oder eine große Koalition nach "deutschem Vorbild", wie es in Italien genannt wird: Forza Italia (in der Rolle der CDU), Partito Democratico (als SPD) und Lega (die man mittlerweile reichlich fahrlässig mit der CSU vergleicht). Sollten alle Bemühungen missraten, dem Land eine neue Regierung zu geben, gäbe es noch das "Tutti-dentro"-Szenario, in dem alle Parteien miteinander regieren - jedoch nur kurz, bis ein neues Wahlgesetz gefunden wäre und bald darauf frisch gewählt werden könnte.
Diese letzte Eventualität ist vielleicht von allen die unwahrscheinlichste. Denn wer in Italien mal ein Parlamentsmandat gewonnen hat, samt netter Privilegien und stattlicher Besoldung, der neigt eher nicht dazu, es gleich wieder abzugeben. Gerade bei den Cinque Stelle muss die Lust auf eine schnelle Auflösung der Kammern besonders klein sein: Laut Parteireglement müssen Parlamentarier der Fünf Sterne nämlich nach zwei Mandaten aufhören. Für viele Parteigrößen, die schon in der vergangenen Legislaturperiode im Senat oder in der Abgeordnetenkammer saßen, wäre dann Schluss. Auch für Luigi Di Maio, den jungen Chef der Partei.
So darf man davon ausgehen, dass Italien auch dann eine Regierung finden wird, wenn der Wahlausgang auf den ersten Blick eher nach unregierbarem Chaos anmutet. 65 Kabinette in 70 Jahren - die Italiener haben eine gewisse Erfahrung gesammelt in dieser Disziplin, im Formen und Schustern von erstaunlichen Allianzen. Manche würden sagen: eine Meisterschaft. Für fast jedes Szenario gibt es einen Präzedenzfall aus der Ersten Republik, von 1948 bis 1993, als zuweilen fünf Parteien miteinander regierten.
Die Akteure sind heute zwar andere, und manche Parteien hinterfragen das System insgesamt. Doch in den italienischen Institutionen stecken Kultur und Traditionen aus sieben Jahrzehnten. Staatspräsident ist ein Mann, der in der Prima Repubblica groß geworden ist. Der linke Christdemokrat Sergio Mattarella ist ein Ausbund an Ruhe und Mäßigung. Bis der mal fertig sondiert und konsultiert hat, regiert in Rom Paolo Gentiloni, der geschäftsführende bisherige Premierminister. Auch er ist ein Mann von sprichwörtlicher Vertrauenswürdigkeit. Vielleicht schaut die Welt deshalb so gelassen auf das wählende Italien.