Israel:Tanz auf der roten Linie

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"Der Fehler eures Lebens": Israel hat im Norden des Landes Truppen konzentriert, um die Hisbollah abzuschrecken - Militärpatrouille in einer Grenzstadt. (Foto: Jalaa Marey/AFP)

Je mehr Raketen die Terrororganisation Hisbollah auf den Norden Israels abfeuert, umso dringlicher stellt sich die Frage, ob ein Zwei-Fronten-Krieg noch zu vermeiden ist.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Selbst in den heftigsten Gefechten rund um Gaza muss Israel stets noch einen zweiten Schauplatz im Blick behalten: Hoch im Norden, im Grenzgebiet zu Libanon, erzeugt die Hisbollah andauernd Spannungen mit Drohnenangriffen, Granaten- und Raketenbeschuss. Bislang ist das vor allem als Drohgebärde verstanden worden, aber es ist ein Spiel mit dem Feuer - und nun mehren sich die Anzeichen für eine Eskalation. Am Sonntag verzeichnete man in Israel erstmals seit dem 7. Oktober häufiger Luftalarm im Norden als im Süden rund um den Gazastreifen. Immer dringlicher stellt sich die Frage, ob ein Zwei-Fronten-Krieg überhaupt noch zu vermeiden ist.

Die Antwort darauf liegt vor allem bei Hassan Nasrallah, dem Chef der Hisbollah, und seinen Hintermännern in Teheran. Nach langem, geheimnisvollen Schweigen zu Kriegsbeginn hat sich Nasrallah am vorigen Wochenende zum zweiten Mal innerhalb von acht Tagen zu Wort gemeldet. Viel war wieder von der "Achse des Widerstands" die Rede, die sich von Gaza und Libanon über militante Gruppen in Syrien, im Irak und in Jemen bis nach Iran spannt. Aber aller donnernden Rhetorik zum Trotz konnte auch diese Ansprache als Absage an eine direkte, umfassende Kriegsbeteiligung verstanden werden.

Die Hisbollah soll über 150 000 Raketen verfügen

Aufhorchen ließ allerdings eine Passage des länglichen Sermons, in der Nasrallah seiner Zuhörerschaft empfahl, nicht nur auf das zu achten, was er sagt - sondern auch auf das, was tatsächlich passiert. Das Echo dieser Worte ist seither im Grenzgebiet und weit darüber hinaus zu hören: Ein Toter und insgesamt 20 Verletzte wurden in Israel allein am Sonntag durch Beschuss aus Libanon verzeichnet. Raketen wurden auf dem Weg nach Akko und in die Vorstädte von Haifa abgefangen. Auch am Montag gingen die Angriffe unvermindert weiter.

Der Befund ist eindeutig: Die Hisbollah setzt auf systematische Eskalation. Und ihre Arsenale sollen mit bis zu 150 000 Raketen gefüllt sein. Auch aus anderen Richtungen nimmt der Beschuss zu: Von den Huthi-Rebellen aus dem fast 2000 Kilometer entfernten Jemen wurden bereits mehrmals Mittelstreckenraketen auf Israel abgefeuert. Sie wurden in sicherer Entfernung abgefangen. Auch als vorige Woche eine Drohne in ein israelisches Schulgebäude in Eilat am Roten Meer krachte, galten die Huthi als erste Verdächtige. Doch dann stellte sich heraus, dass das Flugobjekt aus ganz anderer Richtung gekommen und im mindestens 400 Kilometer entfernten Syrien gestartet war.

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Die Terrororganisation will mehr palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen freipressen, Israels Ministerpräsident Netanjahu besteht auf die Freilassung von zehn Geiseln am Tag. US-Präsident Biden kündigt an, sich für eine Verlängerung des Abkommens einzusetzen.

Schritt für Schritt nähern sich die Konfliktparteien so einer unsichtbaren roten Linie, deren Überschreiten die gesamte Region in einen Krieg hineinzerren könnte. Auf libanesischer Seite sind bei israelischen Gegenangriffen bereits mehr als 80 Menschen getötet worden, 73 davon waren Hisbollah-Milizionäre. Medienberichten zufolge soll Israel in Libanon jüngst ein Ziel bombardiert haben, das 40 Kilometer tief im Landesinneren lag. Zudem sollen von israelischen Flugzeugen schon Flugblätter abgeworfen worden sein, in denen die Bewohner in Südlibanon aufgefordert wurden, sich in Richtung Norden zu flüchten. Auf israelischer Seite der Grenze waren bereits vor Wochen Zehntausende Bewohner umquartiert worden.

Auch rhetorisch wird immer weiter aufgerüstet. Israels Führung hat zwar früh kategorisch klargestellt, dass sie kein Interesse an einem Krieg mit der Hisbollah hat. Doch inzwischen werden die Warnungen in Richtung Libanon immer eindringlicher. Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte: "Macht nicht den Fehler, in den Krieg einzusteigen. Das wäre der Fehler eures Lebens."

Konkreter noch wurde sein Verteidigungsminister Joav Gallant, der darauf verwies, dass nur ein Zehntel der israelischen Luftwaffe mit dem Gazastreifen beschäftigt sei. "Unsere Piloten sitzen in den Cockpits, und die Nasen der Flugzeuge sind nach Norden gerichtet", sagte er. Die Libanesen müssten wissen, "dass das Schicksal Beiruts wie das Schicksal Gazas sein könnte". Auch an Bodentruppen würde es Israel wohl trotz des Einsatzes im Gazastreifen kaum fehlen. Schließlich wurden mehr als 300 000 Reservisten einberufen, ein erheblicher Teil davon ist im Norden stationiert.

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Von Peter Münch

Zunehmend werden in Israel auch Stimmen laut, die nicht mehr nur darauf warten wollen, welche Entscheidungen Nasrallah und die Iraner treffen. Ein Präventivschlag gewinnt Medienberichten zufolge zunehmend Unterstützung in Kreisen der Armee - entweder sehr bald schon als Überraschungsangriff oder aber nach einem Sieg in Gaza. Argumentiert wird damit, dass man nicht nur die Gefahr durch die Hamas für die Bürger im Süden beseitigen müsse. Sichergestellt werden müsse auch, dass die derzeit umgesiedelten Bewohner des nördlichen Grenzgebiets in ein Umfeld ohne Bedrohung zurückkehren könnten.

Ein israelischer Präventivschlag allerdings dürfte den amerikanischen Verbündeten nur schwer zu vermitteln sein. Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden hat sich militärisch fest an Israels Seite gestellt - und dies unter anderem dokumentiert durch die Entsendung von zwei Flugzeugträgern in die Region. Diese Unterstützung aber ist als Geste der Abschreckung gedacht - und gewiss nicht als Signal, dass auch die USA in diesem Krieg eine aktive Rolle spielen wollen. Washington hat keinerlei Interesse, sich im Nahen Osten in einen ausufernden Konflikt hineinziehen zu lassen, an dessen Ende die Supermacht in eine direkte Konfrontation mit Iran geraten könnte. Aber angesichts der aktuellen Dynamik liegt die Entscheidung darüber kaum noch allein in amerikanischer Hand.

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