Israel:Ein Schmerz, der Stimmen bringt

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Manche stellen die Proteste gegen den geplanten Umbau des Justizsystems als Abwehrkampf der alten aschkenasischen Elite gegen die neue, gewählte Mehrheit dar. (Foto: Ohad Zwigenberg/AP)

In Israel will sich der alte Graben zwischen den aus Europa stammenden Aschkenasim und den orientalischen Juden nicht schließen. Auch, weil manche Politiker ihren Nutzen daraus ziehen.

Von Peter Münch, Rechovot, Sderot

Freitagabend in Rechovot: Ruhe hat sich übers Land gesenkt, die Familie Zabari-Peleg sitzt im Garten ihres Hauses zum Schabbat-Essen. Der 20-jährige Sohn Tom ist vom Armeedienst heimgekehrt, auch der ältere Sohn Liam schaut mit seiner Freundin vorbei. Hila Zabari-Peleg hat gekocht, auf dass sich der Tisch fast biegt. Chraime gibt es, einen scharfen Fisch nach maghrebinischem Rezept, und Hühnchen auf jemenitische Art. "Das ist die eine Sache, bei der sich alle einig sind", sagt Amnon Peleg. "Das Mizrachi-Essen ist einfach besser als das der Aschkenasim."

Widerspruch gibt es keinen, die Freunde des "gefilten Fisch" sind tatsächlich weit in die Defensive geraten im israelischen Alltag. Doch die Frage dahinter ist gerade wieder sehr aktuell und umstritten: Gibt es im jüdischen Staat 75 Jahre nach seiner Gründung immer noch einen tiefen kulturellen Graben? Gibt es jüdische Bürger erster und zweiter Klasse? Sind die Aschkenasim, also die aus Europa stammenden Juden, jenseits der Küche weiterhin die tonangebende Elite? Und sind die orientalischen Juden, die in Israel als Mizrachim bezeichnet werden und auch die Sepharden einschließen mit ihren Wurzeln in Spanien und Portugal, immer noch die Opfer von Diskriminierung?

Der Streit darüber wird in diesen Tagen nicht von unten hochgespült, sondern von oben gesteuert: von der der rechts-religiösen Regierung des Premierministers Benjamin Netanjahu. Unter dem Schlachtruf "Wir sind keine Bürger zweiter Klasse" mobilisiert sie gerade ihre Anhänger - als Antwort auf die Massenproteste der Regierungsgegner gegen die Pläne zum Umbau des Justizsystems. Die Demonstrationen für die Demokratie werden dabei als Abwehrkampf der alten aschkenasischen Elite gegen die neue, gewählte Mehrheit dargestellt.

Etwa jede dritte Ehe wird zwischen Aschkenasim und Mizrachim geschlossen

Die Spurensuche nach den Gräben zwischen Aschkenasim und Mizrachim beginnt in diesem lauschigen Garten in Rechovot, weil die Familie Zabari-Peleg beide Seiten vereint. Hila, 52, Solo-Oboistin beim Israel Chamber Orchestra, kommt aus einer jemenitischen Familie. Amnon, 59, der früher einen Schallplatten-Laden hatte und heute Bücher verkauft, ist der Sohn europäischer Holocaust-Überlebender. 30 Prozent der Ehen in Israel sind solche Mischehen. Fragt man beim Schabbat-Essen, ob sich einer hier als Bürger erster oder zweiter Klasse fühlt, sagt Amnon Peleg: "Wir beweisen doch, dass das alles Schwachsinn ist." Und der Sohn Tom fügt an: "Für mich spielt das keine Rolle, die ganze Diskussion ist unnötig."

Für Familie Zabari-Peleg spielt die Debatte um Aschkenasim und Mizrachim keine Rolle mehr. Wenn die Eltern Amnon und Hila zurückdenken, fällt ihnen aber doch einiges dazu ein. (Foto: Peter Münch)

Das ist die Antwort anno 2023, doch wenn sie zurückdenken, dann fällt ihnen schon noch einiges ein zu diesem Thema. Hila Zabari-Peleg erinnert sich an ihre Schulzeit in Rechovot. Da gab es zwei jemenitische Kinder in ihrer Klasse, alle anderen waren Aschkenasim. "Die haben uns gehasst", sagt sie, "und vor allem mich, weil ich in keine Schublade passte." Ein Kind aus jemenitischem Elternhaus hat damals eher nicht getanzt oder Oboe gespielt. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie nicht in die Klasse mit mehrheitlich jemenitischen Kindern kam, sondern in die andere. "Da war die Behandlung besser und auch der Unterricht."

Amnon Peleg war auf der gleichen Schule, und er hat keine Unterschiede wahrgenommen. "Ich habe dafür in der Armee gelitten", sagt er, "da war ich bei denen, die die dreckige Arbeit gemacht haben." Als Aschkenase war er dort ein Außenseiter, und die anderen haben ihn das spüren lassen. "Ich musste ganz laut Mizrachi-Musik hören", erinnert er sich. "Irgendwann bin ich dann in eine andere Einheit gekommen."

Man muss tatsächlich weit zurückgehen in die Geschichte, um die heutige Debatte zu verstehen. Zu Theodor Herzl, dem österreichisch-ungarischen Publizisten, der mit seinem Buch "Der Judenstaat" Ende des 19. Jahrhunderts dem heutigen Staat den Weg vorzeichnete. Oder zu David Ben-Gurion aus dem polnischen Städtchen Płońsk, der 1948 in Tel Aviv die Staatsgründung proklamierte. Israel war damals ein Staat der aus Europa stammenden Zionisten, der Flüchtlinge vor dem Holocaust und der Überlebenden des Genozids.

Israel war anfangs ein Staat der Zionisten und Holocaust-Überlebenden aus Europa

Nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 jedoch strömten in diese europäische Exklave im Nahen Osten rund 800 000 jüdische Flüchtlinge aus arabischen Ländern. Sie brachten ihre Kultur mit, sie sprachen die Sprache des Feindes, und willkommen waren sie nicht. In einem Artikel der Zeitung Haaretz von 1949 wurden sie als "Menschen mit rekordverdächtiger Primitivität" bezeichnet. Ben-Gurion sprach von einer "hohen" und einer "niedrigeren Rasse".

Die Aschkenasim siedelten im fruchtbaren Norden oder in Städten wie Tel Aviv. Die Neuankömmlinge wurden zumeist in schnell hochgezogenen "Entwicklungsstädten" im staubigen Süden untergebracht. So wurde die Ungleichheit zwischen Norden und Süden, zwischen Zentrum und Peripherie betoniert - besichtigen lässt sich das heute noch in einer Stadt wie Sderot.

Bekannt ist sie vor allem wegen ihrer gefährlichen Nähe zum Gazastreifen. Hier landen regelmäßig die Raketen. Gut 30 000 Menschen leben hier, 60 Prozent davon sind orientalische Juden. Die anderen vor allem Neueinwanderer, die nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel kamen. Bei der vorigen Wahl stimmten in Sderot fast 80 Prozent für Netanjahus Likud.

Die Unterschiede werden kleiner, doch das Gefühl der Benachteiligung bleibt

Im Sapir College von Sderot leitet Sami Shalom Chetrit die Filmhochschule. Er ist ein Mann mit vielen Talenten, ein Filmemacher, Poet und Kulturwissenschaftler, und immer geht es ihm dabei um eins: um die Frage der Identität. Er selbst bezeichnet sich als arabischen Juden. 1960 wurde er in Marokko geboren, drei Jahre später kam er mit den Eltern nach Israel.

Die neueste Forschungslage zu Aschkenasim und Mizrachim kennt er natürlich. Zum Beispiel die Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Momi Dahan von der Hebräischen Universität in Jerusalem, der darlegt, wie sich der Einkommensgraben zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen zunehmend schließt. Oder die Aussagen des Soziologen Guy Abutbol-Selinger jüngst in Haaretz, der die Zeit für gekommen hält, zumindest in manchen Bereichen schon über eine "Mizrachi-Hegemonie" zu sprechen. Sami Shalom Chetrit jedoch spricht weiterhin von "Ungleichheit" und "Unterdrückung".

Zwar gebe es keinen ethnischen Konflikt mehr, heute gehe es vielmehr um eine dominierende Wahrnehmung: "Israelisch heißt immer noch aschkenasisch", sagt er, "das ist in der DNA dieses Orts." Zum Beleg verweist er auf die Likud-Partei, die spätestens seit 1977 als Partei der Mizrachim gilt. In jenem Jahr hatte Menachim Begin die seit der Staatsgründung herrschende Arbeitspartei bei der Wahl geschlagen. Er siegte, weil er die Wut der orientalischen Juden über ihre Benachteiligung zu kanalisieren wusste - und genau dies, so erklärt Chetrit, sei bis heute das Erfolgsrezept auch von Netanjahu.

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Netanjahu selbst stamme ebenso wie alle seine Likud-Vorgänger als Regierungschefs aus einer alten aschkenasischen Familie. Doch er gebe den Mizrachi-Wählern das Gefühl, für sie zu arbeiten und die alten Eliten zurückzudrängen. "Das ist sehr zynisch", sagt Chetrit, "aber er hat es geschafft, diese Leute an sich zu binden. Für sie ist er wie ein König."

Im Garten der Familie Zabari-Peleg neigt sich der Schabbat-Abend langsam dem Ende zu. Die ganze Familie hat viel diskutiert darüber, wie es war, wie es ist und wie es werden soll in Israel. Der Graben, so glauben sie, verläuft längst nicht mehr zwischen Aschkenasim und Mizrachim, sondern eher zwischen den liberalen und säkularen Israelis auf der einen und den nationalistisch-religiösen auf der anderen Seite. "Aber Netanjahu spürt noch den Schmerz, den die Leute haben", sagt Hila Zabari-Peleg, "und statt ihn zu lindern, schlägt er daraus Kapital."

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